„quasi una sinfonia“ für Orchester

(Auszug)

… Die 2008-2009 entstandene Komposition quasi una sinfonia war ein Auftrag des Konzerthauses Berlin. Die Uraufführung erfolgte am 1. Oktober 2009 mit dem Konzerthausorchester unter dem Dirigenten Lothar Zagrosek. Die Aufführungsdauer beträgt circa 27 Minuten.

Warum dieser Titel? Eine „Sinfonia“ stand in der älteren Musik, auch in der Oper, häufig als Einleitungssatz. Wenn Goldmann die Konstellation des Uraufführungsprogramms bereits bei Auftragserteilung bekannt war, dann könnte er seine Sinfonie durchaus als eine solche „Einleitung“ zur nachfolgenden 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven gemeint habe. Damit ließe sich möglicherweise auch die mehrmals aufgegriffene These erklären, dass sich die quasi una sinfonia „subtil auf Beethoven bezieht, gespiegelt durch Goldmanns eigene kompositorische Erfahrungen …“ (Hartmut Lück, «singbarer rest», Friedrich Goldmanns «Fünfte»: quasi una sinfonia, in „Neue Zeitschrift für Musik 01/2010, S. 51.)

Vom Tempo und von der kompositorischen Struktur her ließen sich in dieser letztgenannten Komposition etwa folgende Tempo-Abschnitte zu Formteilen zusammenfassen: langsam (T. 1-131) –schnell (T. 132-263) langsam (T. 264-327) – schnell (T. 328-519) – langsam (T. 520-610).

Es ist ein gewissermaßen konzentrischer Formbau, mit direkten Entsprechungen zwischen dem ersten und dem letzten Teil aufgrund des modalen Klangaufbaus zu Beginn der Teile, sowie zwischen dem zweiten (4/4-Takt) und vierten Teil (6/8-Takt) mit der Tempobezeichnung ♩ respektive ♩. = 116, ein Tempo, das Beethoven im zweiten Satz, dem Scherzo seiner 9. Sinfonie vorschreibt. Das im Zentrum liegende lento nimmt in vielfältiger Weise Bezug auf den ersten und fünften Teil.

Wie in vielen seiner Kompositionen exponiert Goldmann gleich zu Beginn das kompositorische Ausgangsmaterial. … Zwei Schlagzeuger traktieren fünf Becken, angeschlagen mit einem Metallstab, und sie bestreiten die ersten fünf Takte der Komposition piano mit unterschiedlichen, sehr diffizilen Rhythmen … .

Nach drei Takten durchschreiten Harfe und Streicher einen Ambitus über fünf Oktaven, unterstützt in den beiden letzten Takten (T. 6 und 7) von der Klarinette und den Flöten in den symmetriebildenden Intervallschritten Quinte – Tritonus – Quarte – Terz – Quarte – Tritonus – Quinte:

 

Die nacheinander anklingenden Töne ergeben einen achttönigen Akkord, der sich aus einem Modus von Halb- und Ganztönen speist.

Drei weitere Takte der zwei Schlagzeuger unterbrechen das Klanggeschehen (T. 9-11). Gleich darauf wird ein Füllhorn von Motiv-Varianten ausgeschüttet, an denen sich Goldmann in der Folge aus- und abarbeitet. Dieses Tonmaterial wird nun in den nachfolgenden Takten in unterschiedlichen Zusammenstellungen verwendet, einerseits als liegende, luzide Flageolett-Akkorde in den Streichern, die vorübergehend eingefärbt werden. Andererseits werden kurze Motive pianissimo und variantenreich von verschiedenen Instrumenten der hohen Holzbläser vorgetragen, die abschließend ihrerseits wiederum mitunter liegende Akkorde bilden. …

Goldmann verfeinert die Klanglichkeit und nutzt dabei die verschiedensten Möglichkeiten, sowohl die Akkordschichtung als auch das zeitweise mikrotonale Einfärben liegender Klänge durch Alterationen im Vierteltonbereich. …

Solistisches Konzertieren, das in Goldmanns Werken eine eminent wichtige Rolle spielt, war bislang noch nicht hervorgetreten, nun aber hat ab Takt 87 das Marimbaphon im meno-Abschnitt dazu Gelegenheit, wenngleich der ‚Solist‘ mit seiner relativ schwachen Stimme – gegenüber der Gruppe der Holzbläser mit ihren wiederholten Crescendi zum Forte – einige Mühe hat, sich hervorzutun. …

Mit dem più mosso (T. 95) setzt in der ersten Klarinette eine Konstruktion ein, in der das Intervall jeweils um einen weiteren Halbton wächst. … Die übrigen Holzbläser verwenden permutiert diese Intervalle, und sie entwickeln sich schließlich zu einer expressiven melodischen Figur, die sich mit den übrigen Bläsern homorhythmisch-akkordisch verbindet. Die Hörner fügen ihre Repetitionen hinzu, teils als Flatterzunge, das Marimbaphon nimmt wieder seine expressive Melodik auf (T. 97-101), während die Klarinetten stringendo mit großen Intervallen (h1-es3-c2-a2-des1) an den Schluss der Scherzos von Beethovens 9. Sinfonie erinnern, hier in langsamerem Tempo und legato. Das Schlagwerk, inzwischen ständig ff spielend, treibt das Geschehen einem Höhepunkt zu, der im letzten Tempoabschnitt des ersten Teils un poco meno mosso (T. 119) in den Streichern und Blechbläsern piano verklingt, aber in den Holzbläsern mit dem quasi homorhythmischen zehntaktigen Abschnitt und dem thematischen Profil zum folgenden schnellen Teil ancora più mosso, quasi allegro überleitet.

… Erst gegen Ende des ersten Teils zeichnen sich klare Konturen ab. Der erste Versuch der Klarinetten und Fagotte scheitert an den Trillern und Flatterzungentönen der Hörner, der zweite mit allen Holzbläsern – und offenbar als Vorbereitung auf den zweiten Teil – liefert erstmals reichhaltiges Material für ein thematisches Profil:

 

NB T. 119-132 (die Akkorde ab Takt 126 sind unvollständig wiedergegeben).

Der zweite Teil (quasi allegro) beginnt mit einem Marschrhythmus, gezupft von der Harfe und nicht etwa forte, sondern mezzopiano. Zwei Woodblocks halten sporadisch dagegen, bald auch noch fünf Tempelblocks und das Marimbaphon. Wie zu Beginn des ersten Teils die fünf Becken, so dominieren vor allem die Tempelblocks die erste Phase. …

Erstmals erklingt eine fanfarenartige Themavariante in der Trompete (T. 171f.), die Töne klingen noch gedämpft, nicht frei. Eine Solo-Violine mischt sich „widersprechend“ während der Atempause des Trompeters ein (T. 172-173):

 

Verschiedene Repetitionsformen schließen sich an, Sextolen in den Streichern, in den Marschrhythmus einschwenkende Holzbläser – allerdings mit karikierenden Vorschlägen – Vierteltriolen in den Trompeten und Posaunen werden diminuiert zu Achteltriolen, die schließlich zu kurzen, kürzesten Motivfloskeln mutieren. …

Nach einer kurzen Repetitionsphase setzen vier Hörner unisono mit einem in zwei Terzschritten sowie Halbton- und Ganztonfolgen aufsteigenden und in großen Schritten absteigenden, sehr markanten Thema ein (T. 213ff.), einer Variante aus dem Trompetenthema.

 

… Die Kunst des Transformierens und Variierens, des Augmentierens und Diminuierens, der Metamorphose ist in diesem Teil, der viel vom Hauptsatz einer Sinfonie hat, weit getrieben. …

Teil 3 der fünfteiligen “sinfonia” ist ein lento-Teil im 4/4-Takt. Er beginnt mit dem Wechselspiel von Individuum und Gruppe. …

Knapp zweitaktig kurze Soli agieren vor dem Hintergrund von liegenden oder bewegten Klängen. Mikrointervallische Viertelton-Alterierungen in den Klängen (270-271) erinnern an den ersten Teil (T. 41-42). Klarinette, Fagott, Flöte und Trompete verarbeiten die accelerierende Aufgangsfigur der Oboe in ihren kurzen solistischen Momenten. Andere Instrumente, wie die Bassklarinette oder die Posaune, greifen auf rhythmisch-melodische Varianten zurück, wie auch das ausgedehntere Solo des Englischhorns.

Von den fünf Abschnitten in diesem lento-Teil ist der mittlere – un poco meno lento – der mit den meisten, variantenreichen melodischen Ansätzen. Kaum ein Instrument, das sich nicht individuell äußert, oftmals nur in Ansätzen, aber stets „eigen“-artig. …

Im folgenden a tempo-Abschnitt (T. 306-313) vereinen sich zwei extrem unterschiedliche Instrumente zu einem gespiegelten, homorhythmischen Duo, die Piccoloflöte und das Kontrafagott:

 

1978 war mit der Komposition „Durch dick und dünn“ schon einmal ein aufgrund der Extremlagen kurioses Stück für Piccoloflöte und Tuba entstanden. …

Teil 4 (allegro, T. 328ff.) ist von der Taktanzahl (192 T.) der umfangreichste, aber von der Zeit (3‘30‘‘) der kürzeste Teil und der einzige im 6/8-Takt. Im sinfonischen Formengefüge vertritt dieser Teil gewissermaßen das Scherzo, fast bilderbuchartig den Vorbildern Mendelssohn, Beethoven, Berlioz oder Mahler folgend. Hemiolenartig tupfen die zwei Flöten ihre von der Sekunde zum Tritonus wachsenden Intervalle, dabei die Legato-Töne der zwei Hörner verdoppelnd. Luftig, nahezu elfisch-fantastisch huscht das Geschehen vor dem Hintergrund des durchgehenden 6/8-Rhythmus‘ der Viola dahin. Eine gedämpfte Trompete fällt mit einer längeren, kapriziösen Passage heraus:

 

Die Pauken, sie spielen – wie im Scherzo von Beethovens 9. Sinfonie – eine gewichtige Rolle, mehr aber hier noch die 5 Bongos und die 2 Tom-Toms, sie leiten nach vier Takten Solo mit Halbtaktschlägen  zu Repetitionen der Flöten und Trompeten über, die mit Staccato-Sprüngen der übrigen Instrumente ein kurzes eigenes Feld bilden.

Fünf Takte der 4 Bongos und 2 Tom-Toms (solo, T. 418-422) sowie zwei Fermaten-Takten (T. 423-424) trennen die nachfolgenden spärlichen Einsätze von Keyboard, Flöte, Trompete und Oboe der nächsten Passage. Im zweiten Fermatentakt erklingt ein Keyboardklang in der viergestrichenen Lage, unterstützt von einem Flageolettklang (c-des-fis-g in der viergestrichenen Oktave) in den Violinen I und II. Während die Violine II den scharfen Sekundklang c4-des4 bis Takt 444 aushält, nehmen ab Takt 426 die Viola und ab Takt 428 die Violine I den durchgehenden 6/8-Rhythmus wieder auf. … Holzbläser tupfen sparsam ihre Akkorde in einem Feld, das eine in Terzen absteigende Linie der Tuba und des Kontrafagotts markiert (T. 434-441). Zunehmend mischen sich Staccatoklänge der Holzbläser mit Trillerpassagen und liegenden Klängen zu einer Verdichtung, die ihren Höhepunkt im Takt 463 in einem trillernden beziehungsweise tremolierenden ff-Klang mit den Tönen ges1-as1-c2-d2-g2-a2 findet. … Die Streicher spielen ein markantes rhythmisch-punktiertes Motiv, angelehnt dem zweiten Satz, dem Scherzo der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven, dort mit einem Oktavsprung und als Kopfmotiv des Fugato-Themas, hier mit einem Quintsprung und mit einer Umkehrung in der 1. Trompete im darauffolgenden Takt. Das Streicher-Motiv wird jedoch zunächst vor allem von den Trompeten konterkariert, die danach laut einer Spielanweisung „wild ausbrechend“ ein Glissando auf- und abwärts blasen.

Mit dem wieder einsetzenden 6/8-Takt blasen die Klarinetten und Fagotte elf Takte von eigenem Legato-Charakter, man mag es Trio nennen, denn gleich darauf beginnt der formale Rückbau.

Zunächst erklingt wieder das Elfisch-Phantastische, während die Streicher ein Abwärtsglissando zupfen. Schließlich wird mit einer einzigen kurzen Aufwärtsfigur der Bläser (T. 496) der Spuk hinweggewischt. Die Schlusstakte dieses Teiles übernehmen die 5 Bongos und 2 Tom-Toms sowie die kurzen Intervall-Klänge des Keyboards, die aus der dreigestrichenen Oktavlage absteigen bis zur reinen Quinte des1-as1 im ppp. Die Pauke schlägt ein auskomponiertes Ritardando …. Der Teil endet mit drei Takten Generalpause.

Der Schlussteil (lento, Teil 5, T. 520) schlägt einen Bogen zum Anfang der „sinfonia“ und beginnt ähnlich wie dort mit einem Klangaufbau (T. 521-523), hier allerdings intervallgeschichtet (Terz, Tritonus, Quinte) und nur mit einem Ambitus von etwas über zwei Oktaven von b bis d3.

 

Beginn Teil 5, T. 521-523, intervallgeschichteter Klangaufbau.

In der Folge wechseln kurze Segmente der Schlagzeuge (3 Becken, 2 Bongos, 2 Tom-Toms) mit luziden Klängen der Bläser beziehungsweise Streicher, gelegentlich ein kurzer Einwurf des Keyboards.

Dann beginnt das Fagott eine expressive Figur, die sich in anderen Instrumenten (Flöte, Oboe, Harfe, Bassklarinette, Fagott, Keyboard) in kleineren Gesten fortpflanzt. …

Eine ungewöhnliche Passage beginnt im Takt 567. Hier lautet die Anweisung des Komponisten in der Partitur (über drei Takte): „Den Ton „e“ mit geschlossenem bzw. leicht geöffnetem Mund (auf „a“) sehr zart und vorsichtig singen (mit Ausnahme der Bläser, die zu spielen haben). Wer nicht gut intonieren kann, sollte schweigen.“ Die Violinen, unterstützt von den Klarinetten, schreiten in vorsichtigen Schritten pianissimo von e1 aufwärts und erreichen im Takt 577 den Ton g3. Drei Fagotte nehmen piano in drei Oktaven nun eine Figur auf (577-582), die ab T. 557 bereits in den ersten Violinen erklungen war und die sie nun variiert weiterführen. …

Wie in den Himmel geschrieben erscheint eine Permutation von B-A-C-H in der Piccoloflöte. Offenbar wollte Goldmann seine Bewunderung für den größten aller Komponisten selbst in dieser Programmkonstellation des Uraufführungskonzertes mit Beethovens 9. Sinfonie nicht unterdrücken.

Keyboard und Harfe warten nun mit ff-Akkorden auf, die Pauken schlagen Sextolen und die Blechbläser crescendieren mit rhythmischen Repetitionen, auf dem Höhepunkt auch die Holzbläser, und die Streicher tremolieren und crescendieren zum fff. Einer „Apotheose“ gleich bricht das Orchester hervor und wäre einem Schluss einer traditionellen Sinfonie würdig. Doch so glorios die Takte 596-600 klingen, es ist nicht der Schluss, denn der wird wieder „gesungen“, erst sieben Crotales beenden den textlosen Gesang, und ein Akkord mit den Tönen B-b-as-f1-as1-b1-d4-e4-g4-h4 beendet die „Sinfonia“ im pianissimo.

Hartmut Lück sieht im textlosen Gesang „die Brücke von der «Freudenhymne» zu unserer Gegenwart: nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist Schillers und Beethovens Hymne so nicht mehr möglich, aber ihr Auftrag «alle Menschen werden Brüder» steht weiterhin uneingelöst auf der Agenda. Diese Vision ist, mit dem Wort Ernst Blochs, immer noch «ungekommen» (in: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien, Reinbek 1969, S. 181); ihr Pathos wurde missbraucht …“ (Hartmut Lück, «singbarer rest», Friedrich Goldmanns „Fünfte“. Quasi una sinfonia, in Neue Zeitschrift für Musik 01/2010, S. 53).

Die Möglichkeit der Verbrüderung, an die Schiller und Beethoven noch glaubten, ist – wenn überhaupt – heute weit weniger mit großen Worten oder gar martialisch lösbar, sondern nur mit feinem diplomatischem Geschick. Vielleicht verweisen die vielen variantenreichen, instrumental-solistischen und „vokalen“ Einsätze auf ein solches „diplomatisches“, konzertierendes Bemühen.