„De profundis“ für Kammerorchester

(Auszug)

Friedrich Goldmann wurde aufgrund der seit 1962 geltenden allgemeinen Wehrpflicht in der DDR mit 34 Jahren als Reservist zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Das Einrücken in ein völlig fremdes Struktursystem mit seinen streng normierten Verhaltensweisen war für einen Musiker sowohl physisch als auch und vor allem psychisch eine große Herausforderung. Goldmann hatte zu dieser Zeit bereits eine stattliche Anzahl von Werken komponiert, darunter die Essays I, II und III, die Schweriner Serenade, die Sonata quasi una fantasia, die Sinfonie 1, zahlreiche Kammermusiken (unter anderen die Sonate für Bläserquintett und Klavier, ein Streichquartett, Musik für Kammerorchester sowie das Bühnenstück R. Hot bzw. die Hitze) und eine Vielzahl von Bühnenmusiken. Hinter ihm lagen das Kompositionsstudium in Dresden, der Besuch der Internationalen Ferienkurse in Darmstadt, das Meisterschülerstudium an der Akademie der Künste und die Tätigkeit als freier Mitarbeiter am Berliner Ensemble. Und nun das: Der Reservistendienst als ehrenvolle nationale Pflicht des Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik. In dieser für ihn trostlosen Zeit, komponierte er ein knapp 25-minütiges Werk mit dem Titel De profundis. Die Besetzung ist ungewöhnlich: 4 Flöten (davon 2 auch Piccolo), Tenorsaxophon ad libitum, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 2 Hörner tief (eventuell verdoppeln mit 2 Hörnern hoch), 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (3 Spieler), Vibraphon, Marimbaphon, Klavier sowie 6 Violoncelli und 4 Kontrabässe. Ungewöhnlich ist auch die tempomäßige Kleingliedrigkeit der 524 Takte umfassenden Komposition, wobei durchaus eine Vierteiligkeit in der Großform erkennbar ist.

Die Komposition beginnt mit den vier Tönen des Tetrachords Kontra-F-G-B und C im Rahmen einer Quinte. Dem liegenden Klang wird durch Akzente ‚Leben‘ eingehaucht. Im zweiten Takt sind es zwei liegende Klänge, die geschichtet und strukturiert aus zwei unterschiedlichen, transponierten Tetrachorden bestehen.

 

Die Klänge beginnen sehr bald sich intern zu bewegen, entwickeln dabei verschiedene Bewegungsformen und erweitern das Intervallfeld um ein weiteres, drittes Tetrachord.

Zunächst beginnen die Instrumente mit Repetitionen rhythmisch definierter Werte von 3 und 5 Sechzehnteln in den Holzbläsern respektive 1, 2, 3, 4, 6 und 7 Achteln in den Blechbläsern und im Klavier.

Ein zweites Klangfeld bewegt sich im Rahmen des zweiten Tetrachords von Des bis As. …

Die Takte werden durch Quintolen, Sextolen und Septolen in unterschiedlich geschwinde Sechzehntel unterteilt, so dass gewissermaßen ein intern bewegter Cluster in den Violoncelli entsteht. …

 

Eine dritte interne Bewegungsform fügt ein drittes Tetrachord von A-H-D-E hinzu. Sie ist eine Kombination unterschiedlicher Bewegungsformen, und es wird eine zunehmend komplexe Struktur respektive Klangtextur erzeugt. Das Klavier dominiert für ein paar Takte die Szene mit einem Intervall-Akkord-Spiel von jeweils vier Sechzehnteln.

Ein poco accelerando endet im Takt 35 und mit ihm der erste Abschnitt, in dem das Klangthema in seinen unterschiedlichen Ausprägungen exponiert ist.

Moderato, ma pesante beginnt der folgende Abschnitt. Das Tempo ist deutlich angehoben. Aus den Tiefen der Kontra-Oktave entwickelt sich ein starkes Motiv.

 

… Das kammermusikalische Spiel von vielfältigsten Modifikationen dieser beiden Themenwelten, des Klanglichen und des Linearen, werden uns in der Sinfonie 2 kontraststark wiederbegegnen.

Im ersten sub. allegro greifen die Fagotte, Posaunen und Tuba auf eine Modifikation des zweiten Themas, vor allem auf das Intervall der kleinen Sexte zurück. Drei Gongs deuten einen Marschrhythmus an:

 

Wie später im zweiten Satz des Oboenkonzertes, verwendet Goldmann hier (möglicherweise als eine Art Vorstudie) eine „Montagebauweise, die Formteile als Geschehenszeiträume, als diskontinuierliche Ereignisse verbindet (vgl. R. Kontressowitz, Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von Friedrich Goldmann, Annäherung 5: Altenburg 2014, S. 247). Sie ähnelt der filmischen Schnitttechnik mit abruptem Szenenwechsel. …

Mit dem ersten Einsatz von Vibraphon und Marimbaphon hellen sich die Register auf. Erstmalig spielen auch die Violoncelli (unisono) eine ausgedehnte expressive Passage in hoher Lage, und sie müssen sich gegen ein ff der Bläser behaupten.

Nach den zwei kurzen allegro-Ansätzen mit 6 respektive 9 Takten und einem elftaktigen accelerando-Übergang, der mit dem Einsatz von vier Flöten im ff beginnt und schlussendlich das 92-taktige allegro erreicht. Es ist ein marschartiger Satz, ein Ostinato, in dem etwa fünf Gruppen sich mehr oder weniger zum „Akt des Marschierens“ positionieren. Im Verlauf erfahren die Gruppen wechselnde Zuordnungen, etwa in dem die Piccoloflöten transponiert den Part der tieferen Bläser übernehmen oder die Bassklarinette und die Fagotte sich an den Hochgeschwindigkeitspart der Flöten wagen.

Vibraphon und Marimbaphon gehen im dreifachen fff ‚libero‘ gegen einen gleichschaltenden Rhythmus vehement an, was schließlich auch das Klavier zu individuellen Aktionen anregt, sodass sich schließlich die tiefen Bläser und die drei Schlagzeuge zurückziehen. Der Titel ist hier also wörtlich genommen, denn sämtliche Aktionen verlaufen jetzt in der ein-, zwei- und dreigestrichenen Oktave. …

Am Ende dieses allegro-Abschnitts steht ein Takt senza tempo. … Nach dieser deutlichen Zäsur beginnt calmo ein langsamer 90-taktiger Abschnitt, der im Wesentlichen von den vier Flöten bestritten wird. Von Generalpausen unterbrochen ist der Höhen-Punkt (sic.) der vier Flöten erreicht. Im schnellen Wechsel folgen vier Takte allegro, vier Takte calmo, vier Takte allegro und wieder vier Takte calmo. Ein accelerando mit rhythmisierten Bewegungen des Tones Kontra-F führt zum folgenden, letzten allegro molto.

Das Kontra-F bleibt der „Grund“-Ton dieses Abschnitts. Darüber finden sich fast liedhafte Motivvarianten, kontrapunktisch verwoben und von Quintolen-Figuren immer wieder angestoßen. Allmählich beginnt auch wieder ein marschähnliches Ostinato, das im Schlagwerk und der Posaune sowie im Klavier und den Pauken präsent ist. Den Abschluss bildet ein viertaktiges Tuba-Solo mit den vier Tönen des 3. Tetrachords im ff. …

Im lento assai-Abschnitt (T. 446-515) greifen Kontrafagott und Tuba die drei Töne des ersten Tetrachords auf. Die Violoncelli breiten eine Klangstruktur als Intervallspiel aus Tönen des zweiten Tetrachords aus in Form von Tremoli, Triolen, Quintolen und Septolen. …

Akkordische Repetitionen in den Violoncelli, kombiniert mit engem Intervallspiel in den tiefen Holzbläsern wechseln sich vorübergehend ab mit dem furiosen Aktionismus in den Flöten, die das Spiel dominieren, in das dann Vibraphon und Marimbaphon einsteigen. Gleichzeitig erklingt augmentiert das zum Signal (kleine Sexten) ausgeweitete starke Motiv zweimal aufwärts in den Bläsern.

 

Diese Fanfare führt zu dem Höhepunkt, zum Kulminationspunkt der gesamten Komposition:

 

Von den bislang drei agierenden Gruppen … sind die Flöten für den allmählichen Abbau des Höhepunktes zuständig. …

Die Flöten jagen in wilden Läufen und einem sechstaktigen Accelerando noch einmal in die dritte Oktave, … bevor nach einem Diminuendo das subito lento sich im erweiternden Intervallspiel von Vibraphon und Marimbaphon und kurzen Sechzehnteln der drei Schlagzeuge im Nichts verliert.

Formal ist diese sinfonische Kammermusik schwerlich einem Traditionsschema zuzuordnen. Der Versuch einer Vierteiligkeit bleibt künstlich, wenngleich sowohl das 92-taktige allegro und das 90-taktige calmo wie der senza tempo-Takt etwa in der Mitte der Komposition einige Hinweise in diese Richtung geben.

Man spricht davon, dass De profundis eine Sinfonie in einem Satz sei und paraphrasiert damit den Titel eines Werkes von Bernd Alois Zimmermann. Andere sprechen von einem genialen Stück.

Die Uraufführung von De profundis, komponiert 1975, erfolgte fast 40 Jahre später am 10., 11. und 12. Januar 2014 im Mozarteum Salzburg, danach in Zürich und Genf mit dem Österreichischen Ensemble für Neue Musik, dem Collegium Novum Zürich und dem Ensemble Contrechamps Genf unter der Leitung von Johannes Kalitzke.