Sinfonie 1 für Orchester

(Auszug)

 

Das Thema des ersten Satzes ist dreiteilig gegliedert. Goldmann verwendet für die beiden Hauptmotive zwei Viertongruppen, transponiert und permutiert aus der allbekannten Grundreihe

B-A-C-H, ein Verfahren wie es Anton Webern zum Beispiel im Streichquartett Opus 28 praktiziert.

Diese Viertongruppe im Kleinterzrahmen erlaubt es ihm, eine chromatische 12-Tonskala aufzubauen, hier also im ersten und zweiten Takt: d-e-cis-es (Motiv a) sowie b-a-c-h (Motiv b). Die fehlenden vier Töne liefert der kontraststarke Gegensatz zu den Hauptmotiven in den Takten 3 und 4 im Kontrafagott: ges-f-g-as (Motiv c) respektive diminuiert und rhythmisch variiert in der Krebsgestalt (T. 3) im Kontrabass sowie ebenfalls diminuiert in der originalen Tonfolge (T. 4). …

Aber Goldmann geht es nicht primär um konsequente Zwölftönigkeit und schon gar nicht darum, den übermächtigen Johann Sebastian Bach zu ehren, sondern die Viertonfolgen liefern ihm ein kontingentes Material, aus dem er reichlich schöpfen kann. Die Tonfolge B-A-C-H erlaubt vierundzwanzig Permutationen (Fakultät 4!), das ergibt multipliziert mit den Transpositionen der zwölf Halbtöne 288 Viertonfolgen, die ihm als Ausgangsmaterial zur Verfügung stehen.

Die melodisch expressiven Hauptmotive (T. 1, 2) und ihr vom Charakter her enggeführter Gegensatz (T. 3, 4) könnten kontrastreicher kaum angelegt werden. …

Ein nachfolgender Abschnitt (T. 30) – quasi lento, ma libero (ca. 50‘‘) – bildet den zweiten Teil der Exposition, bestritten von der Flöte I und der deutlich artikulierenden (sf) Viola sola, unterbrochen von Schlagzeuggeräuschen (Becken, Tamtam, Stahlkette auf Stahlplatte). Es ist – hat man den Sonatenhauptsatz im Blick – der wohl eher dürftige, brüchig vorgetragene Rest eines zweiten Themas. Neues Material setzt Goldmann nicht ein, sondern verbleibt bei den Viertongruppen, die von der Viola im freien Tempo gespielt werden. …

Wie schon im Hauptmotiv, so teilt sich auch im dritten Teil der Exposition das Geschehen rhythmisch in zwei Bewegungsmuster: englagige, kreisende Sechzehntelgruppen wechseln mit weitlagigen Triolengruppen. In beiden Fällen bleiben die Viertonfolgen das musikalische Material. Durch Überlagerung der chromatischen Viertongruppen (T. 31) ergibt sich eine unruhige Klangrepetition, die durch die Hörner mit ihrem chromatischen Viertoncluster geglättet wird.

Goldmann bevorzugt es, seine Formteile deutlich zu kennzeichnen, und so endet der dritte Teil und damit die Exposition mit einer Generalpause, der noch zwei Takte mit Cluster-Trillern respektive Flatterzunge (Tp., Pos.) im fff folgen. …

Die Durchführung im Sonatenhauptsatz beginnt bei Goldmann im Tempo des Anfangs sub. più mosso  mit Takt 63. Eher zurückhaltend bläst die Klarinette im mf die krebsgängige Figur des zweiten Taktes des Hauptmotivs mit der permutierten Viertongruppe h-c-a-b. Ihr folgt im Klavier und den tiefen Streichern eine weitere Gruppe mit den Tönen f-as-g-fis, der sich die Flöten mit den Tönen dis-cis-e-d anschließen und damit die 12-tönige Skala vervollständigen. Der Beginn ist mit den eingesetzten Mitteln äußerst spartanisch. …

Goldmann wagt den Spagat zwischen dem Anspruch der Gattung und der Unangemessenheit gegenüber dem aktuellen Entwicklungsstand von Gesellschaft und Musik.

So lebt ein erster Abschnitt in dieser ‚Durchführung‘ von motivischen Vierton-‚Floskeln‘, verteilt auf verschiedene, solistisch agierende Instrumente, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von Generalpausen. …

Den nachfolgenden Abschnitt dominieren Glissandi auf- und abwärts, sie scheinen diesen Formteil, die Durchführung, desavouieren zu wollen.

Schematisch ließe sich die Form im ersten Satz etwa wie folgt aufzeigen: 

Exposition, Teil 1 = T. 1-29, Teil 2 = T. 30, Teil 3 = T. 31-62
Durchführung T. 63 - 189
Reprise T. 190-206
Coda T. 207-210


Goldmanns Wissensdurst war geradezu unersättlich, was er sah, was er hörte, alles wurde von ihm begierig aufgenommen und verarbeitet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er in der wohl bedeutendsten der orchestralen Traditionsformen, der Sinfonie, die aktuell größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte verarbeitet. …

Formal ließen sich die kleinteiligen Abschnitte des zweiten Satzes dreigliedrig in A-B-C zusammenfassen, wobei der Abschnitt C im Wesentlichen ein Kompositum aus ähnlichen Elementen von Teil A (Klangmodule) und B (improvisatorische Abschnitte) ist. Es sind die Teile, die Goldmann wiederum mittels Brückentöne und -klänge voneinander trennt, neue, freie Elemente hinzufügt und zum Schluss hin destruktiv den formalen Zerfall betreibt. …

Ausgangspunkt sind die vier Töne vom Motiv a aus dem Hauptthema des ersten Satzes (in den Takten 1 und 2, hier in vielfältig permutierten Folgen). Goldmann arbeitet in additiver Weise mit intern bewegten Klangmodulen, basierend auf wechselnden Permutationen des Ausgangsmaterials.

Die innere Bewegung in den Klangmodulen erreicht Goldmann durch acht rhythmische Patterns. …

Im Takt 58 (Teil C) setzen die Streicher reprisenartig im pp mit einem eintaktigen Klangmodul mit den Permutationen g-as-ges-f und cis-d-e-cis ein mit rhythmischen Patterns, wie sie im Teil A zu finden sind. Nach robusten ff-Klängen und gewaltigen sfffz-Schlägen des Klaviers, einem stehenden Akkord in mehreren Oktaven (C-e-f-as) und einem bedrohlich wirkenden Crescendo verliert sich das Geschehen im pp bis zum Ende des zweiten Satzes in Einzelaktionen.

Unschwer zu erkennen ist das dem ersten Satz angelehnte Strukturprinzip der drei Viertongruppen, Permutationen, dort: a-c-h-b, g-as-f-ges sowie es-d-cis-e, sie bilden das Ausgangsmaterial, wenngleich wir es hier nun mit Dreitongruppen: a-c-h, b-g-as, f-ges-es und d-cis-e zu tun haben, die auch autonom und sowohl horizontal als auch vertikal eingesetzt werden.

Hier im dritten Satz treffen das Konzertante, das freie Spielerische gemäß dem traditionellen Rondo-Charakter, auf das Institutionelle, Gesetzliche, dem Sinfonischen Gemäße.

Reale Formerfüllung wird karikiert, korrumpiert, sarkastisch kommentiert oder komplett demontiert. Die Rondoform ist am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst. Dennoch lassen sich MotivEinsätze zuordnen, wenngleich alles mit einem Netz von Varianten überzogen ist. Das kontingente Ausgangsmaterial ist ständig präsent mit Tonfolgen, Motiven oder rhythmischen Anlehnungen.