(S. 102) Raum als kompositorisches Konzept ist nicht neu. Verortungen
im Raum der Präsentation, z. B. in der Kirche, finden wir bei
den Antiphonen, den Responsorien, der Mehrchörigkeit, wie sie
in Venedig in der barocken Festmusik gepflegt und von Andrea und
Giovanni Gabrieli zu einem Höhepunkt geführt und die
Mehrchörigkeit von deren Schülern Hans Leo Hassler
und Heinrich Schütz auch in Deutschland praktiziert wurde. Die
Verteilung von mehreren Orchestern im Raum finden wir im 20.
Jahrhundert bei K.-H. Stockhausen (Gruppen für drei Orchester,
1957; Carré für vier Orchester, 1960) oder bei
Pierre
Boulez (Répons, 1981). All diese Kompositionen waren und
sind Möglichkeiten, den Präsentationsraum
‘Konzertsaal’ mit seinen akustischen
Möglichkeiten zu nutzen.
Ausgangspunkt und Anregung, dieses
Kapitel zu schreiben, ist die auffällige, deutlich
hörbare kompositorische Raumgestaltung der klanglichen
Ereignisse in Friedrich Goldmanns Violinkonzert, im ersten Satz des
Oboenkonzertes sowie im Klavierkonzert.
(S. 103) Zu unserer Raumdefinition sei gesagt, dass wir uns auf den
durch den Ambitus der Orchesterinstrumente erzeugten möglichen
Klangraum beschränken und an Beispielen versuchen, deutlich zu
machen, wie sich der Klangraum bei Goldmann und in welcher Form von
Verortungsbeziehungen darbietet. Uns interessiert die architektonische
Räumlichkeit des Musikalisch-Kompositorischen, in der die
akustischen Klänge und Figuren sich entfalten. Dieser Raum
kann groß und licht sein, scheinbar ereignislos, oder klein
und spannungsreich dicht gedrängt, er kann aber auch so
weiträumig gefasst sein, dass sich Einzelereignisse darin
isoliert verlieren.
Ein anderer Aspekt dieser ‚Annäherung
3‘
ist die Zeit. … Die Begrenztheit des menschlichen Lebens
macht Zeit für den Menschen zu einer kostbaren Ressource, denn
Raum und Zeit sind der Rahmen, innerhalb dessen er sich bewegt.
„Beim Durchlaufen der Raum-Zeit-Pfade ist jedes Individuum
diesen constraints, Zwängen und Restriktionen, unterworfen,
die die Möglichkeiten des Verhaltens, ihrer Handlungen und
Entscheidungen eingrenzen.“ (Schroer: 2006, Räume,
Orte, Grenzen, Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M.,
S. 110) Aber dennoch organisieren wir unseren Raum und unsere Zeit
weitgehend aktiv selbst, und in nicht wenigen Fällen hat
dieses bewusste Organisieren von Raum und Zeit eine Bedeutung oder wir
geben dieser abgegrenzten Begegnung – etwa mit Personen an
einem bestimmten Ort, aber auch in einem Kunstwerk, in einer
Komposition – eine ganz bestimmte Bedeutung, und sie wird
dadurch welthaltig.
Wir wollen die hier zur Diskussion stehenden Konzerte als im
Raum
vorübergehend verortete Klangobjekte verstehen. (S. 104) Die
Klangobjekte verändern sich, bewegen sich im Raum, steigen auf
oder ab, vergrößern ihren Umfang
(Tonhöhenbereich) oder verdichten sich, ziehen sich zusammen
auf ein einziges enges Intervall oder einen einzigen Ton. Dieses Formen
respektive „Gestalten geschieht im Abgrenzen als Ein- und
Ausgrenzen.“ (Heidegger 2007, Die Kunst und der Raum
– L’art et l’espace, Frankfurt/M., S. 5)
Wir sehen hierbei Parallelen zu den unterschiedlichen
Denkansätzen bezüglich des viel diskutierten
„Raum“-Begriffes. Schafft zum Beispiel der Solist
die Raumgrenze(n) und das Orchester bewegt sich innerhalb dieser
Grenzen (etwa im 1. Satz des Violinkonzertes oder im 1. Satz des
Oboenkonzertes) oder ist das Orchester bzw. sind Gruppen des Orchesters
a priori im Raum verortet, möglicherweise zusammen mit dem
Solisten (wie zu Beginn, der Section 1 des Klavierkonzertes)
– und bewegen sich im Laufe des Satzes bzw. der Komposition
in verschiedene Richtungen, das ist für uns eine immer
wiederkehrende, relevante Frage.
Das aktive Organisieren des Raumes
ist stets auch mit der Machtfrage verbunden. Der französische
Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) unterscheidet die Gruppen danach,
„welcher Zugang zum Raum ihnen möglich ist und wie
groß ihre Chancen zur Raumaneignung sind“,
während der britische Soziologe Anthony Giddens (geb. 1938)
Institutionen danach unterscheidet, „welcher Spielraum
Akteuren darin eingeräumt wird, auf ihre eigene Situation
einwirken zu können.“ (Schroer 2006, S. 115) (S.
105) Die Begriffe Raum und Zeit implizieren nicht allein die strenge
Zuordnung von Zeit zur Musik sowie Raum zur bildenden Kunst; denken wir
an Raumakustik, Raumklang oder das im März 2011 im Museum der
bildenden Künste Leipzig respektive in den Kunstsammlungen
Chemnitz durchgeführte Konzert unter dem Titel
„Raummusik“. Auch die vielfältigen
gegenwärtigen Kunstformen wie Installationen, Performances,
Fluxus oder Happenings brechen tradierte Abgrenzungen auf. Klangliches
wie Optisches sind immer Erlebniswelten, sie zu erfassen bedeutet, das
eben Gehörte oder Gesehene mit dem zusammenzudenken, was als
nächster akustischer oder optischer Reiz auf uns einwirkt,
denn erst daraus ergeben sich Formungen: Klanggestalten oder Bilder.
Unser Denken ist nicht geschichtslos, es ist im Laufe von
Jahren,
Jahrhunderten durch Vorlieben und Überzeugungen vorangetrieben
worden auf der Suche nach einer Form des Zusammenlebens, des
gesellschaftlichen Miteinanders. Doch muss man sich immer wieder
vergegenwärtigen, dass unser Denken mehr oder weniger
„imitatio-basierte Kopierprozesse“ (Sloterdijk
2012, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt/M., S.
686), Gewohnheiten sind, willkürliche oder kontingente, die
also auch in ganz anderen Bahnen hätten verlaufen
können. Dehnen wir unseren Zeithorizont in die Vergangenheit
aus, dann erkennen wir, dass das, was wir Kultur nennen, kein
Zufallsprodukt ist, sondern dass wir uns selbst in einem endlos sich
entwickelnden, andauernden Prozess befinden. Je weiter wir unseren
Zeithorizont in die Vergangenheit ausdehnen, umso mächtiger
werden die Werkzeuge unseres Wissens. Aber dennoch fragen wir nicht in
erster Linie woher kommen wir, sondern wohin wollen wir, jedoch ist die
Frage nach dem Wohin immer nur stellbar aus dem Kontinuum des Woher,
aus unserem Wissen um die geschichtlichen Ereignisse in unserer
Vergangenheit. In unserem Denken gehören nach unserem
gängigen Zeitverständnis die drei Dimensionen
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft zusammen,
unabhängig davon, welches Gewicht wir im Augenblick der einen
oder anderen Dimension geben, denn nur so ermöglichen sie
überhaupt erst unser Denken.
Jeder von uns hat seine ganz persönliche
Vergangenheit, wir tragen sie in unserem
Gedächtnis und können sie rekonstruieren, indem wir
uns an Vergangenes, an unsere geschichtliche Vergangenheit erinnern.
Dieses Durchschreiten von Räumen und Zeitsegmenten, in denen
sich immer wieder die Wege verschiedener Individuen, ihre Interaktionen
kreuzen und sich an so genannten „
»Stationen« oder bestimmten
Raum-Zeit-Orten“ (Giddens 3/1997, Die Konstitution der
Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung,
Frankfurt/New York, S. 164) treffen, wo es zu Begegnungen kommt, ist
das Stattfinden von sozialen Ereignissen „in Kontexten von
Kopräsenz“ (Giddens 3/1997, S. 123), wobei Giddens
mit dem Begriff »Kontext« eben „jene
Raum-Zeit-»Segmente« oder
Raum-Zeit-»Ausschnitte«, in denen
Zusammenkünfte stattfinden“, meint (Giddens ebenda)
und „in denen sich Interaktionen bündeln und
zentrieren“ (Schroer 2006, S. 111).
(S. 106) Wir haben es in diesem
Kapitel mit drei wesentlichen Begriffen zu tun, mit dem des Raumes der
erklingenden Musik, dem der Zeit (-dauer) in der Komposition und den
Bewegungen beziehungsweise Verortungen des Komponierten im Raum sowie
der Wechselwirkung des Komponisten mit seiner Umwelt, seiner
Lebenssituation, seinem politischen Denken, seiner humanistischen und
allgemeinen Bildung etc., also mit der realen Lebenssituation, zu dem
„der Inhalt des Kunstwerkes aber diese Fäden
abgeschnitten hat und nur seine eigenen Elemente zu selbstgenugsamer
Einheit verschmilzt“. (Simmel 2008, Philosophische Kultur,
Zur Ästhetik: Der Henkel, Frankfurt, S. 117) „Aus
den Anschauungen der Wirklichkeit, aus denen das Kunstwerk freilich
seinen Inhalt bezieht, baut es ein souveränes Reich“
und schafft sich „seine Existenz in einem ideellen
Raum“ (ebenda).
Oboenkonzert
Wenden wir uns einem kompositorischen Sachverhalt, dem ersten Satz des Oboenkonzertes zu. In relativ grob-schematischer Form sehen die dramaturgischen Raum-Zeit-Ereignisse etwa wie in der Abbildung 1 aus. Natürlich sind Raum und Zeit weitaus gekerbter als hier dargestellt.
Abbildung 1: Schematische Raum-Zeit-Darstellung im
Oboenkonzert, 1. Satz (S. 107 resp. 23, 24)
Die fünf Räume zeigen eine Zeitstruktur von
ca.
50–50–20–40–20–10–30
Takten.
Der erste, vom Solisten geschaffene
Raum wird begrenzt vom Aktionsradius im Tonumfang von e1 bis d2 (im
Takt 8 geht es mit es2 und f2 sogar darüber hinaus). Zwischen
den Räumen gibt es sogenannte Brückentöne,
in den Takten 23/24 ist es das gis1 im Englischhorn, in
den Takten 44-46 ist es das b1, das der Solist von der 1.
Orchestertrompete abnimmt (vgl. Abb. 1), im Takt 50 ist es das c3, das
die Streicher
vom Solisten abnehmen, in den Takten 107-109 ist es das h1, das der
Solist vom Englischhorn übernimmt und im Takt 202 ist es das
e1 der Violinen I und II unisono. (S. 107) Der erste Satz des Konzertes
beginnt in der Solo-Oboe mit dem Ton d2 und endet in der Solo-Oboe mit
dem Ton d2, der in der 2. Flöte verebbt, hier allerdings
spannungsvoll dissonant in schöner Bach-Manier konfrontiert
mit dem des2 in der 3. Trompete.
Was in der grob-schematischen Form oben von Takt 1 bis Takt 50 sich wie
ein geschlossener Raum darstellt, muss weiter differenziert werden. In
der Tat bläst die Solo-Oboe bereits im zweiten Takt
sämtliche Töne des kompletten Modus’ A
(vgl. Annäherung 1) und schafft damit einen entsprechenden
Klangraum oder wenn man will, einen Kommunikationsraum, zumindest aber
schafft sie ein räumliches Arrangement (vgl. Abb. 2 im Buch),
auf
deren Wirksamkeit sie ihre ersten Einsätze ausrichtet. Doch
der Raum, in dem die Orchesterinstrumente verbleiben, ist enger
begrenzt. Beginnend im Takt 3 ist dieser enge Raum dann im Takt 7 dicht
ausgebaut und der Teilmodus Aß aufgefüllt: d2- cis2-
h1- b1- as1, er wird weitergeführt vom Takt 9 (mit dem
Diminuendo des d2 in der Solo-Oboe) und reicht zunächst bis
Takt 24 mit dem Brückenton gis1/as1 im Englischhorn. Goldmann
schafft – um die Differenz deutlich zu machen
– zwei unterschiedlich strukturierte Räume, den Raum
des die abgesteckten Grenzen auslotenden Solisten mit filigraner
Zeitstruktur und den eher statisch, wie ein hingestellter,
gefüllter Klangcontainer wirkenden engeren Raum der
Orchesterinstrumente.
(S. 115) Zwischen den Takten 79 bis
85 verdichten sich die Wechsel der vertikalen Klangkomplexe,
verschiedene Raumordnungen von unterschiedlicher Raumweite und
unterschiedlicher, relativ kurzer Zeitdauer wechseln einander ab. Ein
ähnliches Abwechseln und Verdichten des Raumes bis hin zur
vollständigen Verwendung der Modi A und B erfolgt im Takt 131.
(S. 117) … Werke „existieren nicht nur in einem
Raum-Zeit-Kontinuum, sondern sie erschaffen ihren je eigenen Ausschnitt
des Raum-Zeit-Kontinuums. Als Niederschlag einer
ästhetisch-kreativen Erkenntnis reflektieren sie die
Bedingungen, unter denen Phänomene in Raum und Zeit
hervorgebracht werden, und zeigen sie beispielhaft an sich vor.
Philosophisch ausgedrückt: Musikalische und bildnerische Werke
organisieren und exemplifizieren das neben und nacheinander der
Dinge“ (Peres 2007, Kandinsky, Leibniz und die RaumZeit, in:
Phänomen Zeit, Spektrum der Wissenschaft Spezial, Heidelberg,
S. 207).
Der amerikanische Kunstphilosoph Nelson Goodman
prägte für den Umstand, dass schöpferische
Werke beispielhaft Eigenschaften der Wirklichkeit an ihrer eigenen
Gestalt zeigen, etwa Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sie also
an sich selbst exemplarisch vorführen, den Begriff der
‚Exemplifikation‘; sie ist „eine wichtige
und vielverwendete Weise der Symbolisierung innerhalb und
außerhalb der Künste.“ (Goodman 1995,
Sprachen der Kunst, dtsch. v. B. Philippi, Frankfurt/M., S. 59)
„Gleichwohl ist Zeigen oder Exemplifizieren ebenso wie das
Denotieren eine Referenzfunktion; und Bilder werden unter ganz
ähnlichen Gesichtpunkten erwogen wie die Begriffe und
Prädikate einer Theorie: auf ihre Relevanz und die
Aufschlüsse hin, die sie geben; auf ihre Kraft und ihre
Angemessenheit – kurz, ihre Richtigkeit.“ (Goodman
1984, Weisen der Welterzeugung, dtsch. v. M. Looser, Frankfurt/M., S.
33) Für ihn hat z. B. eine musikalische Komposition
„keinen anderen Gegenstand als ihr klangliches Geschehen,
ihre rhythmische Ordnung eines Zeitablaufs mit spezifischen
ästhetischen Qualitäten.“ (Peres 2007, S.
86) Es geht dabei „um das Treffen feiner Unterscheidungen und
das Entdecken subtiler Beziehungen, das Identifizieren von
Symbolsystemen und von Charakteren innerhalb dieser Systeme und das
Identifizieren dessen, was diese Charaktere denotieren und
exemplifizieren; es geht dabei um das Interpretieren von Werken und die
Reorganisation der Welt mit Hilfe der Werke und der Werke mit Hilfe der
Welt.“ (Goodman 1995, S. 223)
(S. 118)
Bevor wir uns noch einmal der Bedeutung respektive der Deutung der Begriffe ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ widmen, wollen wir uns einem Phänomen im ersten Satz des Oboenkonzertes zuwenden, dass einen anderen Blick auf die Raumvorstellungen erfordert. Es ist nicht die Positionierung an einem bestimmten Ort im Raum, wie wir es bei den Streichern oder Bläsern gesehen haben, sondern es sind die überlagerten, zeitunterschiedlichen Pulse der fünf Schlagzeuge, die dem Raum Impulse geben, bestimmte Zeitfenster (Takt 123-127 etc.) strukturieren und scheinbar das gesamte orchestrale Geschehen auf eine überschaubar komplexe rhythmische Basis stellen (wollen). In ihrer dichtesten Schichtung in abnehmender Form, sich also zunehmend dehnend, finden wir die Pulse z. B. im Takt 126/127:
Abbildung 11: Überlagerung unterschiedlicher Pulse der fünf Schlagzeuge, Takt 126/127 (S. 118)
Natürlich kommt dieses rhythmische Paradigma nicht als plötzlicher Einbruch in den formalen Ablauf des ersten Satzes; es wird zunächst fast unmerklich vorbereitet ab Takt 63: die Einsätze der Solo-Oboe sowie der fünf Blechbläser werden jeweils von den fünf Schlagzeugen ganz ohne Vorschläge akzentuiert; ein Gleiches geschieht ab Takt 78. Eigenständige Aufgaben übernehmen die Schlagzeuge zunächst bis Takt 122 nicht. Erst im dritten Einsatz werden ab Takt 123 dann die rhythmischen Modellteile, jetzt erstmals sogar mit 1-5 Vorschlägen, relativ schnell eingeführt. Auch hier gehen die Einsätze der Schlagzeuge mit denen der Solo-Oboe und Blechbläser einher, dreifach akzentuieren sie mit den Vorschlägen, dem Markato-Akzent sowie einem sfz wiederum die Einsätze der Solo-Oboe und der drei Trompeten und zwei Posaunen. (S. 119)
Notenbeispiel 3: Schlagzeug und Solo-Oboe Takt 123-127. (S. 119).
Das quasi krebsgängige
Pendant zum Takt 126 findet sich in den Takten 133/134, exakt an der
dramaturgisch kritischsten Stelle des ersten Satzes, der
Öffnung in die unendlichen Weiten des Orchesterklangraumes. In
den Takten 193 bis 200 hat dieser Raum dann mit 48 Tonhöhen
vom h3 bis Kontra D, den Modi A-E und der chromatischen Tonfolge ab
Kontra A bis Kontra D, seine größte Ausdehnung
erfahren (vgl. Abb. 1).
Die Bläser im Orchester – im
Gegensatz zu den Streichern, die die „Masse“
stellen – sind in der Regel Individualisten, wenn sie nicht
gerade chorisch eingesetzt werden. Goldmann hebt diesen Unterschied im
ersten Satz auf, er teilt die ersten und zweiten Violinen in je 4
kleine Gruppen (T. 50 ff.), die Bratschen und Violoncelli in je 3 Soli
(ab T. 80), auch die Kontrabässe sind ab T. 100 solistisch
eingesetzt. Das ermöglicht ihm die Darstellung von Aktionen im
Raum durch verschiedene sehr qualifizierte Gruppen sowohl in den
Bläsern als auch in den Streichern und im Schlagzeug. Die
für uns spannenden Fragen sind die nach den Konsequenzen der
Raumerweiterung und nach Goldmanns Denkweise bezüglich des
Raumes. Ist der Raum für ihn ein
„Behälter“, oder entsteht Raum
für ihn durch die kreativen Aktionen der Orchestergruppen
… (S. 121) „… Alles, was ist, bildet
ein Raum-Zeit-Kontinuum. Einfache Entitäten wie auch komplexe
Dinge sind durchgängig miteinander vernetzt. Der Wahrnehmung
ist diese Wirklichkeit nicht zugänglich. Der Mensch erfasst
sich selbst und seine Umgebung als bloße Phänomene
in Raum und Zeit. Doch dieses Nebeneinander von Gegenständen
wie das Nacheinander von Ereignissen entsteht als kognitive Leistung.
Raum und Zeit sind Ordnungsbegriffe für unsere
phänomenale Welt.“ (Peres 2007, S. 86)
Auf die Kunst angewendet, würde uns diese Einsicht
zu der Erkenntnis
führen, dass musikalische und bildnerische Werke nicht nur in
einem Raum-Zeit-Kontinuum existieren, sondern ihren je eigenen
Ausschnitt des Raum-Zeit-Kontinuums erschaffen. „Als
Niederschlag einer ästhetisch-kreativen Erkenntnis
reflektieren sie die Bedingungen, unter denen Phänomene in
Raum und Zeit hervorgebracht werden, und zeigen sie beispielhaft an
sich vor. Philosophisch ausgedrückt: Musikalische und
bildnerische Werke organisieren und exemplifizieren das Neben- und
Nacheinander der Dinge.“ (Peres ebenda)
Dient die
Raumerweiterung im ersten Satz des Oboenkonzertes, was die
Höhe betrifft, zur Selbstdarstellung des Solisten, zur
Präsentation seiner Fähigkeiten, seiner
Virtuosität und seiner Kraft, oder hat es
möglicherweise eher etwas mit Herrschaft und
Souveränität zu tun, um seine Dominanz in seiner
Leistung herauszustellen, was im Solokonzert ja legitim wäre?
Doch gleichzeitig dehnt sich die Raumerweiterung zur Tiefe hin noch
stärker aus als die zur Höhe, was natürlich
den Instrumenten geschuldet ist. Für die Solo-Oboe ist b
– h3 ein erstaunlicher Drei-Oktaven-Umfang, der im ersten
Satz jedoch nur ab e1 genutzt wird. (S. 124)
Trotz allen Argumentierens bezüglich des
Virtuosentums im Oboenkonzert (was ja eher auf
eine traditionelle Komponente innerhalb dieser Gattung hinweisen
würde) und der Raumerweiterung im ersten Satz des
Oboenkonzertes lässt sich möglicherweise auch ein
anderer Hintergrund vermuten, etwa ein brisanter
gesellschaftspolitischer: die Öffnung des Raumes als
musikalisches Exempel für die gesellschaftliche und politische
Situation (Goldmanns) in der DDR und seine ausgeprägte
Vorstellung von – in des Wortes ureigenster Bedeutung
– grenzenloser Freiheit, einer Freiheit, die ihm erlaubt,
seine künstlerischen Ideen mit Gleichgesinnten in der Welt
auszutauschen. Sollte das nämlich die Intention gewesen sein,
dann wird uns umso mehr interessieren, was Goldmann mit dem nahezu
unerschöpflichen, zur Zeit der Entstehung noch
geträumten Raum anfängt, den er ab Takt 131 im ersten
Satz des Oboenkonzertes kreiert, wie er ihn strukturiert und
ausfüllt, nachdem er ihn determiniert hat, oder wie er ein
Raum-Zeit-Kontinuum mit den größeren und kleineren
Orchestergruppen gestaltet; dabei stets eingedenk der Worte
Schopenhauers, dass wir beim Zuhören von Musik dem Hang
verfallen seien, in unserer Phantasie „allerhand Scenen des
Lebens und der Natur darin zu sehen“ und dass es besser sei,
„sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein
aufzufassen“. (Schopenhauer 2009, Die Welt als Wille und
Vorstellung, Zur Metaphysik der Musik, Köln, S. 829)
Andererseits muss man sich aber auch klar darüber werden,
„dass nicht nur der Kopf in der Welt sondern auch die Welt in
unserem Kopf ist“. (Safranski 2010, Wieviel Globalisierung
verträgt der Mensch? München, Wien, S. 73) Denn
„wir sind Welterzeuger; wir erzeugen beständig
›neue Welten aus alten‹. Was wir sehen,
wahrnehmen, berühren, alles ist im Fluss, den wir selber
schaffen. Das wirkliche psychologische Problem besteht darin, auf
welche Weise wir ihm Gestalt geben und wie wir in ihm
manövrieren.“ (Putnam 1988, Vorwort zu: Goodman,
Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt/M. S. Xf.)
In der Tat scheinen ab Takt 137 konzertierte Aktionen oder
vielleicht besser
konzertierende Aktionen abzulaufen, die wie Kommunikationen zwischen
den Gruppen ineinander greifen, sich ablösen, den Raum als
kreativen Akt hervorbringen oder, was unserem landläufigen
Verständnis von Raum als Behälter näher
liegt, sich des Raumes spielend, also konzertierend
bemächtigen, ihn mit Aktionen an unterschiedlichen Orten
besetzen. Die Verdichtung der Aktionen in der Zeit, eingeleitet von der
Solo-Oboe ab T. 137, mit ihren kleinen Dauernwerten (Sechzehntel als
Grundmaß) und komplizierten Zeitstrukturen, ihren fragilen
Rhythmen, greifen auf die Orchestergruppen über.
(S. 127) Der Handlungsgroßraum von Takt 131 bis 171 (40
Takte), ein für diesen Abschnitt des ersten Satzes des
Oboenkonzertes gewissermaßen entgrenzter Raum, in dem sowohl
Entzerrung von Raum und Zeit als auch Verdichtung charakteristisch
sind, lässt … erahnen, dass wir es mit Verortungen
im Raum zu tun haben, die kaum noch deutlich auseinander zu halten
sind, die sich permanent auflösen und an anderer Stelle neu
bilden, die quasi „vagabundierende Grenzen“
(Schroer 2006, S. 274) errichten. Mit dieser Zunahme von
räumlichen Bezügen verliert sich die Eindeutigkeit
der Grenzen. Die teilweise Fragmentierung und Zersplitterung,
Überschneidung und Überlagerung scheint zu einer
„weitreichenden Flexibilisierung und Verflüssigung
des ehemals Unbeweglichen und Starren“ (Schroer 2006, S. 272)
zu führen. Vor allem das Internet trägt heute dazu
bei, den Raum so aufzufassen, dass er erst durch soziale Praktiken
erzeugt wird. Es sind also Räume, die es nicht schon immer
gibt, sondern die erst durch Aktivitäten, durch Kommunikation
hervorgebracht werden. Ein derartiges Raumverständnis birgt
erhebliche Konsequenzen für alle gesellschaftlichen Ebenen.
Klavierkonzert
(S. 132) Wir haben gesehen, dass Goldmann im ersten Satz
seines
Oboenkonzertes den Raum quasi kontinuierlich in drei Stufen erweitert
hat, um zur größten Ausdehnung zu kommen. Ganz
anders verhält es sich – nicht zuletzt wohl auch
aufgrund seines komplett anderen Formansatzes – in dem
zeitnah entstandenen Klavierkonzert. Goldmann zeigt in diesem Konzert
in eindrucksvoller Weise das Kompositionsgenetische, scheinbar fernab
jeder formenhaften Festigkeit. Und doch lebt hier deutlich die
überlieferte Vorstellung „vom nach außen
begrenzten, innen gefüllten Raum fort“
(Funken/Löw, Ego-Shooters Container in: Maresch/ Werber, Raum,
Wissen, Macht, Frankfurt, S. 76).
Die von Goldmann verorteten musikalischen ZeitRäume sind
Struktur und sie sind Teil der Großform, doch ihre Funktion
ist es, die Strukturen erst zu bilden.
(S. 133) Goldmann teilt das Klavierkonzert formal in acht
unterschiedliche Sectionen:
1. Section – allegro molto
Fünf Abschnitte bilden die erste Section, dabei wird jeder
Abschnitt von einem statischen Klang in extrem tiefer Tonlage
dominiert:
Notenbeispiel 13: Klavierkonzert, 1. Section, Die Klänge der fünf Abschnitte.
Abbildung 17 (S.133): Section 1 (T. 1-61).
(S.134) Mit diesem Ort (innerhalb des gesamten Klangspektrums
des Orchesters) korrespondiert das
Instrumentarium: 2 Fagotte, Kontrafagott; 3 Posaunen, Tuba; Pauken,
Schlagwerk; Kontrabässe. …
(S. 144) Das Kunstwerk „vergleicht sich selbst mit
vorausgegangener Kunst, sucht und
gewinnt Abstand, zielt auf Differenz, schließt etwas aus, was
als möglich schon vorhanden ist. Dadurch definiert es seinen
Stil oder seine Stilzugehörigkeit“ (Luhmann 2008,
Schriften zu Kunst und Literatur, 2. Ist Kunst codierbar? 6. Das
Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, Frankfurt/M., S. 168)
Und es ist der Eigenwert der Kompositionen respektive der Kunstwerke
allgemein, der dem Stil sein historisches Gewicht gibt. Wie
groß der Beitrag Friedrich Goldmanns für die
Musikgeschichte ist, wird erst die fernere Zukunft zeigen.
„Die Temporalstruktur des Stils selbst, seine Mikrozeit,
ermöglicht es, den Aufbau zu fördern oder dem Abbau
zu trotzen, avantgardistisch oder nostalgisch zu operieren und die
ganze Qualität des einzelnen Kunstwerks für solche
Stilpolitik in die Waagschale zu werfen.“ (Luhmann 2008, S.
169) Nicht selten haben Kunstwerke Voraussignale gesetzt, die in der
Retrospektive wie Prognosen gedeutet werden können. Wie
Goldmanns Musik in der Zeit ihrer Entstehung gewirkt hat, wissen wir
einigermaßen, aber ganz sicher hat sie sehr viel zur
Qualifizierung der Musikkultur seiner Zeit und seines Ortes
beigetragen, dieses Verdienst bleibt ihm unbestritten.