Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von 
Friedrich Goldmann 

Das Buch erschien 2014 im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad

Nachfolgend einige Auszüge mit Seitenzahlen, Abbildungen und Notenbeispielen, die auf das Buch verweisen.

Annäherung 2 (S. 61-99)

Kontingenz - ein moderner sozialtheoretischer Leitbegriff,
oder: alles ist Thema

(S. 63) In seiner grundlegenden Bestimmung des Begriffs kontingent schreibt der Soziologe Niklas Luhmann: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.“ (Luhmann 1987, Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main, S. 152) Manche Autoren sprechen „von „possible worlds“ der einen realen Lebenswelt (z. B. Nicholas Rescher, 1968, Jon Elster 1978). …

(S. 64) In Goldmanns Musik scheint die kontrollierte schöpferische Fantasie und sein Streben nach einer ganz eigenen Konstruktion von Welt von eminenter Bedeutung zu sein. Diese Welt der modernen Gesellschaft wird zunehmend komplexer und unüberschaubarer; im Zuge der funktionalen Differenzierung nimmt die Komplexität des Sozialen zu, eine Vielzahl von Einzelaktionen überlagert sich zu einer geradezu beängstigenden Dichte von nicht mehr durchschaubaren, intransparenten Ereignissen. „Eine Gesellschaft, die sich stets dem Neuen verpflichtet fühlt, ist nahezu unvermeidlich mit der Paradoxie von wachsenden Optionen bei gleichzeitig wachsender Ungewissheit konfrontiert.“ (Holzinger 2007, Kontingenz in der Gesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld, S. 16) Das heißt, dass das Wissen häufig nun nicht mehr ein höheres Maß an Sicherheit bietet, sondern zu einer sukzessiven Zunahme an kognitiver und normativer Ungewissheit führt. (Holzinger, 2007) Eine Hilflosigkeit mit der Tendenz zur Auflösung breitet sich aus und führt zur Orientierungslosigkeit, zu einer Unübersichtlichkeit; und würde man den Versuch unternehmen, z. B. gesellschaftliche Zusammenhänge erkennen zu wollen, müsste man sich wohl eingestehen, dass die Vielfältigkeit der sich überschneidenden Vorgänge und der auf vielfältige Weise miteinander verwobenen Gruppierungen sich als unübersichtliche Gesellschaft mit einer Fülle an Denkmöglichkeiten präsentieren. Diese Möglichkeitsoffenheit scheint ein besonderes Merkmal unserer modernen Welt zu sein und in ihr wird eine zentrale Instanz unabdingbar sein: die Entscheidung.

Um die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen zu bezeichnen, ist in der Philosophie und in der Soziologie, vor allem in der Systemtheorie (Niklas Luhmann 1987, Talcott Parsons, The Social System, New York 1964) der historisch auf Aristoteles zurückgehende, oben ausführlicher besprochene Begriff „Kontingenz“ (Möglichkeit, Zufall) zu einem modernen sozialtheoretischen Leitbegriff geworden. „Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit“ (Luhmann 1987, S. 152), er bezeichnet mögliche Abwandlungen, also jenen ambivalenten Bereich von Unbestimmtheit. „Dem gerade akut bewussten Erleben steht eine Welt anderer Möglichkeiten gegenüber. Die Problematik dieser Selbstüberforderung des Erlebens durch andere Möglichkeiten hat die Doppelstruktur von Komplexität und Kontingenz“ (Luhmann 1971, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas und Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M. 10/1990, S. 32), wobei mit dem (65) Begriff Komplexität das Mehr an Handlungsmöglichkeiten als aktuell erlebbar gemacht werden kann bezeichnet wird, das heißt Komplexität in diesem Sinn bedeutet Selektionszwang. „Der Begriff Kontingenz soll sagen, dass die im Horizont aktuellen Erlebens angezeigten Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns nur Möglichkeiten sind, daher auch anders ausfallen können, als erwartet wurde…“ (Luhmann 1971, S. 32).
Immer wenn gehandelt wird, stellt sich das Problem der Kontingenz, weil die Verhältnisse generell so sind wie sie sind: komplex, weder notwendig so, noch unmöglich! Das Erleben „findet sich nicht in sich selbst verschlossen, nicht auf sich selbst beschränkt vor, sondern stets verwiesen auf etwas, was im Augenblick nicht sein Inhalt ist. Dies Über-sich-Hinausgewiesen-sein, diese immanente Transzendenz des Erlebens steht nicht zur Wahl, sondern ist jene Kondition, von der aus alle Freiheit der Wahl erst konditioniert werden muss.“ (Luhmann 1971, S. 31) …

Aufgrund der kaum überschaubaren Vielzahl an Möglichkeiten zu handeln, wählen wir aus, müssen wir auswählen (wählt der Komponist aus!), und damit erhält eine Situation einen ganz bestimmten Sinn und zugleich unterstellen wir dem Komponisten, dass seine Entscheidung mit einem Gedanken, einem Gedankeninhalt – in Abhängigkeit von seinen Intentionen – verknüpft ist. „Qualität gewinnen Elemente nur dadurch, dass sie relational in Anspruch genommen, also aufeinander bezogen werden. Das kann in realen Systemen … nur selektiv geschehen, das heißt nur unter Weglassen anderer, auch denkbarer Relationen. Qualität ist also nur möglich durch Selektion …“ (Luhmann 1987, S. 42). … (S. 66) 

Oboenkonzert

Diese oder ähnliche Überlegungen scheinen Goldmann im Oboenkonzert beschäftigt zu haben, seine Selektionen sind jeweils eine Wahlmöglichkeit unter vielen, sie schließen bestimmte Möglichkeiten ein und andere aus. „Vor dem Handeln und nach dem Handeln: Kontingenz ist das durchlaufende Moment, die zeitliche Einheit von Projektion und Erinnerung.“ (Luhmann 2001, Aufsätze und Reden, Stuttgart, S. 12) Mit jeder Entscheidung, mit jedem Handeln erfolgt eine Selektion, die so, aber auch anders hätte ausfallen können. Das von Goldmann selektierte Material sowohl für den Solisten (NB 1a-p) als auch für das Orchester (NB 2a-q) ist im Buch auf den Seiten 66-74 dargestellt, nachfolgend drei Beispiele aus dem Oboenkonzert:

Oboenkonzert, Solo-Oboe T. 78-80 [AW-BA 42] (NB 1f, S. 67)

Solo-Oboe, Takt 78-80, NB 1f
 

 Oboenkonzert, Solo-Oboe T. 123-126 [AW-BA 42] (NB 1j, S. 68)

Solo-Oboe, Takt 123-126, NB 1j
 

 Oboenkonzert, Orch-Oboe T. 91-93 [AW-BA 42] (NB 2e, S. 70)

Orchester-Oboe, Takt 91-94, NB 2e
 

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Abb. 18 (S. 95)": linke Tabelle, [Zeile 400, Spalten AW-BA]: vgl. NB 1f (S. 67); rechte Tabelle, [Zeilen 439 und 454, Spalten AK-AO]: vgl. NB 1j (S. 68) und NB 2e (S. 70)
Oboenkonzert, obige Notenbeispiele hier dargestellt in ihrem kontingenten Umfeld. Die Zahlen verweisen auf die Viertel-Dauern

Wir verwenden den Begriff der Kontingenz für die Unbestimmtheit dessen, was wir aufgrund der fehlenden Fixierung, einer basalen Formung, nicht traditionell Thema nennen können und gebrauchen deshalb den Begriff kontingentes Thema, woraus – nach allem oben Gesagten – zu schließen ist, dass Goldmann mit einem offenen Anschlussverhalten ‚spielt‘. Seine Strategie der Ambiguität des Erwartens, also ohne genaue Festlegung, sichert den Fortlauf und ermöglicht entsprechend vielfältige kompositorische Anschlussentscheidungen. Auch wenn wir uns auf die Tondauern (1-5) mit unterschiedlicher oder gleichbleibender Tonhöhe und die Kombinationen mit unterschiedlichen Vorschlägen (1-5) konzentrieren, so bilden die ausdifferenzierten Trillerketten, die Repetitions- und Tremologruppen, aus denen sich – vornehmlich in den Streichern – figurative Gruppen entwickeln, ebenso eine Komplexität, die der Komponist durch Selektion, also per Entscheidung reduzieren muss, wie die agogischen Figuren in den Holzbläsern (T. 78, 98, 105 etc.) und die rhythmischen Konstellationen in den Hörnern (T. 182) respektive im Schlagzeug (T. 189 ff.). Die fünffach abgestufte Dynamik wird nur sehr selten relevant im ersten Satz des Oboenkonzertes, deshalb wurde sie in der Tabelle der Wahlmöglichkeiten nicht beachtet. Eine formelhafte Einbeziehung des Melodischen in die arithmetische Reihe von 1-5, und damit in die Kontingenztabelle, erschien uns bei unserem derzeitigen Analysestand zunächst nicht denkbar, doch auf sie zu verzichten – dessen sind wir uns bewusst – heißt auch, einen wesentlichen Aspekt außer Acht zu lassen.

Im Anhang dieses Kapitels sind im Buch – aus der Exceltabellen-Gesamtübersicht herauskopiert – die von Goldmann verwendeten Möglichkeiten des kontingenten Themas in ihrem Umfeld dargestellt in Bezug auf die Dauern in Kombination mit der Anzahl der Vorschläge. Diese Tabelle errechnet sich nach der Formel Fakultät 5 (5!), das ergibt 120 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten der fünf Tondauern. Und zu jeder dieser 120 Permutationen gibt es wiederum 120 Varianten mit der Anzahl von 1 bis 5 Vorschlägen, daraus errechnen sich insgesamt 14400 Permutationen bezüglich der Tondauer und der Anzahl der Vorschläge, aus denen Goldmann per Entscheidung das jeweilige ‚kontingente Thema‘ respektive eine Anschlussmöglichkeit auswählen konnte. Da jede Tondauer zwangsläufig mit einer Tonhöhe verknüpft ist, und Goldmann natürlich nicht nur mit fünf verschiedenen Tönen arbeitet, sondern ihm 15 Tonhöhen des zugrunde liegenden Modus‘ zur Verfügung stehen – das Hauptaktionsfeld des Solisten umfasst den Tonhöhenereich e1-d2-c3 (sieht man von der Kadenz ab, die bis zum h3 hinaufführt) –, so ergibt sich daraus die mathematische Frage, wie viele verschiedene Fünftongruppen sind bei 15 verschiedenen Tonhöhen möglich?
Die Ckn sind Binomialkoeffizienten, die Anzahl der k-elementigen Teilmenge (=5) einer n-elementigen Menge (=15). Geht man von Kombinationen ohne Berücksichtigung der Anordnung der Elemente aus (also der Abfolge z. B. der fünf Tonhöhen) und berücksichtigt nur die Anzahl der Kombinationen ohne Wiederholung von n Elementen zur k-ten Klasse, dann sollte uns die folgende Formel ein brauchbares Ergebnis liefern: Ckn=(nk)=n!/(n-k)!/k!, wobei n!=15! Daraus ergeben sich 360360 Permutationen bei 15 verschiedenen Tonhöhen für die Solo-Oboe. Diese Anzahl von Fünftongruppen-Permutationen wäre dann mit 14400 (120 Varianten von fünf verschiedenen Dauern mal 120 Varianten von fünf verschiedenen Vorschlägen) zu multiplizieren, um das für den kompositorischen Gebrauch zur Verfügung stehende kontingente Material des Solisten anzudeuten; das heißt, dem Komponisten stünden 5.189.194.000 Permutationsmöglichkeiten zur Verfügung. Goldmann schafft sich mit dieser Fülle von Permutationsmöglichkeiten innerhalb seines kompositorischen Gesetzes einerseits einen großen Spielraum, andererseits aber zwingt dieser ihn zur Reduktion des musikalischen Materials. Er muss sich für jede Anschlussmöglichkeit neu entscheiden, dieser Vorgang der Auswahl ist Teil der Definition seines Personalstils. Goldmann „komponiert“ (ital. comporre = zusammensetzen) seine Welt und schreibt damit Geschichte.

Klavierkonzert

(S. 77) Anders als beim Oboenkonzert, für das das Motto „alles ist Thema“ stehen könnte, ließe sich analog für das Klavierkonzert das Motto setzen: „alles ist Variation“ oder vielleicht besser noch: „alles ist Veränderung“. Auch eine so originelle Begabung wie Friedrich Goldmann kann oder will nicht über gewisse Grenzen hinausgehen, die ihn aufgrund seines Geburtsjahres als Zeitzeugen festschreiben. „Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich, und gewisse Gedanken können erst auf gewissen Stufen der Entwicklung gedacht werden.“ (Wölfflin 1979, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Dresden, S. 9) Für Goldmann scheinen Grenzen jedoch eine geradezu magische Anziehungskraft besessen zu haben; für ihn waren sie wie Herausforderungen, sie weit auszudehnen oder gar zu überwinden. Er forderte wiederholt produktive Veränderungen; kompositorische Experimente waren für ihn ebenso unerlässlich wie das Nachdenken über Kommunikationsstörungen bezüglich der überkommenen Institutionen, dem Konzertsaal z. B. mit den von ihm ausgehenden Zwängen. (Goldmann 1980, Auseinandersetzung. In: Musik und Gesellschaft, Heft 6, Berlin, S. 339)

Die zunehmende Komplexität in der menschlichen Gesellschaft widerspiegelt sich auch in den Kompositionen Goldmanns. Seine Konzerte könnte man als Beobachtungen, als Versuche bezeichnen, in denen er um eine emergente Ordnung ringt. „Ich kann mir die gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken als diejenige, bei der es nun bleiben könne; schlechthin nicht denken als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles Traum und Täuschung; und es wäre nicht der Mühe wert, gelebt und dieses stets wiederkehrende, auf nichts ausgehende und nichts bedeutende Spiel mit getrieben zu haben.“ Johann Gottlieb Fichte (Die Bestimmung des Menschen, Leipzig 1976, S. 157) schrieb diese Worte 1799, er konnte nicht ahnen, dass sie 180 Jahre später nicht minder aktuell sein würden.

Wir setzen hier für das Klavierkonzert das Postulat eines komplex angelegten Variationenwerkes, wenn „Variation“ nicht als Variation von etwas Geformtem, einem Thema etwa, sondern (S. 78) Variation (bzw. Permutation) als Entscheidungskette, als permanent veränderndes Komponieren von kontingentem Material begriffen wird, daher wäre der Terminus „Veränderungen“ anstelle von „Variationen“ wohl zutreffender. Man könnte durchaus auch von einem kompositorischen Netzwerk sprechen aufgrund der engen Verflechtung und der Verbindung zwischen horizontalem und vertikalem Geschehen, was wiederum als kompositorisches Handwerk so neu nicht wäre, doch aber als Beleg für Goldmanns solides und zeitgemäßes, komplexes künstlerisches Arbeiten gelten könnte.