(S. 63) In seiner grundlegenden Bestimmung des
Begriffs kontingent schreibt
der Soziologe Niklas Luhmann: „Kontingent ist etwas, was
weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es
ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.
Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes,
Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches
Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont
möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus,
bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern
das, was von der Realität aus gesehen anders möglich
ist.“ (Luhmann 1987, Soziale Systeme, Grundriss einer
allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main, S. 152) Manche Autoren sprechen
„von „possible worlds“ der einen realen
Lebenswelt (z. B. Nicholas Rescher, 1968, Jon Elster 1978).
… (S. 64) In Goldmanns Musik scheint die kontrollierte
schöpferische Fantasie und sein Streben nach einer ganz
eigenen Konstruktion von Welt von eminenter Bedeutung zu sein. Diese
Welt der modernen Gesellschaft wird zunehmend komplexer und
unüberschaubarer; im Zuge der funktionalen Differenzierung
nimmt die Komplexität des Sozialen zu, eine Vielzahl von
Einzelaktionen überlagert sich zu einer geradezu
beängstigenden Dichte von nicht mehr durchschaubaren,
intransparenten Ereignissen. „Eine Gesellschaft, die sich
stets dem Neuen verpflichtet fühlt, ist nahezu unvermeidlich
mit der Paradoxie von wachsenden Optionen bei gleichzeitig wachsender
Ungewissheit konfrontiert.“ (Holzinger 2007, Kontingenz in
der Gesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner
Sozialtheorie, Bielefeld, S. 16) Das heißt, dass das Wissen
häufig nun nicht mehr ein höheres Maß an
Sicherheit bietet, sondern zu einer sukzessiven Zunahme an kognitiver
und normativer Ungewissheit führt. (Holzinger, 2007) Eine
Hilflosigkeit mit der Tendenz zur Auflösung breitet sich aus
und führt zur Orientierungslosigkeit, zu einer
Unübersichtlichkeit; und würde man den Versuch
unternehmen, z. B. gesellschaftliche Zusammenhänge erkennen zu
wollen, müsste man sich wohl eingestehen, dass die
Vielfältigkeit der sich überschneidenden
Vorgänge und der auf vielfältige Weise miteinander
verwobenen Gruppierungen sich als unübersichtliche
Gesellschaft mit einer Fülle an Denkmöglichkeiten
präsentieren. Diese Möglichkeitsoffenheit scheint ein
besonderes Merkmal unserer modernen Welt zu sein und in ihr wird eine
zentrale Instanz unabdingbar sein: die Entscheidung. Um die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher
Lebenserfahrungen
zu bezeichnen, ist in der Philosophie und in der Soziologie, vor allem
in der Systemtheorie (Niklas Luhmann 1987, Talcott Parsons, The Social
System, New York 1964) der historisch auf Aristoteles
zurückgehende, oben ausführlicher besprochene Begriff
„Kontingenz“ (Möglichkeit, Zufall) zu
einem modernen sozialtheoretischen Leitbegriff geworden. „Der
Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit
und Unmöglichkeit“ (Luhmann 1987, S. 152), er
bezeichnet mögliche Abwandlungen, also jenen ambivalenten
Bereich von Unbestimmtheit. „Dem gerade akut bewussten
Erleben steht eine Welt anderer Möglichkeiten
gegenüber. Die Problematik dieser Selbstüberforderung
des Erlebens durch andere Möglichkeiten hat die Doppelstruktur
von Komplexität und Kontingenz“ (Luhmann 1971, Sinn
als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas und Luhmann: Theorie der
Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die
Systemforschung? Frankfurt/M. 10/1990, S. 32), wobei mit dem (65)
Begriff Komplexität das Mehr an
Handlungsmöglichkeiten als aktuell erlebbar gemacht werden
kann bezeichnet wird, das heißt Komplexität in
diesem Sinn bedeutet Selektionszwang. „Der Begriff Kontingenz
soll sagen, dass die im Horizont aktuellen Erlebens angezeigten
Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns nur
Möglichkeiten sind, daher auch anders ausfallen
können, als erwartet wurde…“ (Luhmann
1971, S. 32). Aufgrund der kaum
überschaubaren Vielzahl an Möglichkeiten zu handeln,
wählen wir aus, müssen wir auswählen
(wählt der Komponist aus!), und damit erhält eine
Situation einen ganz bestimmten Sinn und zugleich unterstellen wir dem
Komponisten, dass seine Entscheidung mit einem Gedanken, einem
Gedankeninhalt – in Abhängigkeit von seinen
Intentionen – verknüpft ist.
„Qualität gewinnen Elemente nur dadurch, dass sie
relational in Anspruch genommen, also aufeinander bezogen werden. Das
kann in realen Systemen … nur selektiv geschehen, das
heißt nur unter Weglassen anderer, auch denkbarer Relationen.
Qualität ist also nur möglich durch Selektion
…“ (Luhmann 1987, S. 42). … (S.
66) Oboenkonzert Diese
oder ähnliche Überlegungen scheinen Goldmann im
Oboenkonzert beschäftigt zu haben, seine Selektionen sind
jeweils eine Wahlmöglichkeit unter vielen, sie
schließen bestimmte Möglichkeiten ein und andere
aus. „Vor dem Handeln und nach dem Handeln: Kontingenz ist
das durchlaufende Moment, die zeitliche Einheit von Projektion und
Erinnerung.“ (Luhmann 2001, Aufsätze und Reden,
Stuttgart, S. 12) Mit jeder Entscheidung, mit jedem Handeln erfolgt
eine Selektion, die so, aber auch anders hätte ausfallen
können. Das von Goldmann selektierte Material sowohl
für den Solisten (NB 1a-p) als auch für das Orchester
(NB 2a-q) ist im Buch auf den Seiten 66-74 dargestellt, nachfolgend drei
Beispiele aus dem Oboenkonzert: Solo-Oboe, Takt 78-80, NB 1f Solo-Oboe, Takt 123-126, NB 1j Orchester-Oboe, Takt 91-94, NB 2e
Immer wenn gehandelt wird, stellt sich das Problem der
Kontingenz, weil die Verhältnisse generell so sind wie sie
sind: komplex, weder notwendig so, noch unmöglich! Das Erleben
„findet sich nicht in sich selbst verschlossen, nicht auf
sich selbst beschränkt vor, sondern stets verwiesen auf etwas,
was im Augenblick nicht sein Inhalt ist. Dies
Über-sich-Hinausgewiesen-sein, diese immanente Transzendenz
des Erlebens steht nicht zur Wahl, sondern ist jene Kondition, von der
aus alle Freiheit der Wahl erst konditioniert werden muss.“
(Luhmann 1971, S. 31) …
. |
Abb. 18 (S. 95)": linke Tabelle, [Zeile 400,
Spalten AW-BA]: vgl. NB 1f (S. 67); rechte Tabelle, [Zeilen 439 und
454, Spalten AK-AO]: vgl. NB 1j (S. 68) und NB 2e (S. 70) Wir verwenden den Begriff der Kontingenz für die
Unbestimmtheit dessen, was wir aufgrund der fehlenden Fixierung, einer
basalen Formung, nicht traditionell Thema nennen können und
gebrauchen deshalb den Begriff kontingentes Thema, woraus –
nach allem oben Gesagten – zu schließen ist, dass
Goldmann mit einem offenen Anschlussverhalten
‚spielt‘. Seine Strategie der Ambiguität
des Erwartens, also ohne genaue Festlegung, sichert den Fortlauf und
ermöglicht entsprechend vielfältige kompositorische
Anschlussentscheidungen. Auch wenn wir uns auf die Tondauern (1-5) mit
unterschiedlicher oder gleichbleibender Tonhöhe und die
Kombinationen mit unterschiedlichen Vorschlägen (1-5)
konzentrieren, so bilden die ausdifferenzierten Trillerketten, die
Repetitions- und Tremologruppen, aus denen sich – vornehmlich
in den Streichern – figurative Gruppen entwickeln, ebenso
eine Komplexität, die der Komponist durch Selektion, also per
Entscheidung reduzieren muss, wie die agogischen Figuren in den
Holzbläsern (T. 78, 98, 105 etc.) und die rhythmischen
Konstellationen in den Hörnern (T. 182) respektive im
Schlagzeug (T. 189 ff.). Die fünffach abgestufte Dynamik wird
nur sehr selten relevant im ersten Satz des Oboenkonzertes, deshalb
wurde sie in der Tabelle der Wahlmöglichkeiten nicht beachtet.
Eine formelhafte Einbeziehung des Melodischen in die arithmetische
Reihe von 1-5, und damit in die Kontingenztabelle, erschien uns bei
unserem derzeitigen Analysestand zunächst nicht denkbar, doch
auf sie zu verzichten – dessen sind wir uns bewusst
– heißt auch, einen wesentlichen Aspekt
außer Acht zu lassen. Im Anhang dieses Kapitels sind im Buch – aus der
Exceltabellen-Gesamtübersicht herauskopiert – die
von Goldmann verwendeten Möglichkeiten des kontingenten Themas
in ihrem Umfeld dargestellt in Bezug auf die Dauern in Kombination mit
der Anzahl der Vorschläge. Diese Tabelle errechnet sich nach
der Formel Fakultät 5 (5!), das ergibt 120 verschiedene
Kombinationsmöglichkeiten der fünf Tondauern. Und zu
jeder dieser 120 Permutationen gibt es wiederum 120 Varianten mit der
Anzahl von 1 bis 5 Vorschlägen, daraus errechnen sich
insgesamt 14400 Permutationen bezüglich der Tondauer und der
Anzahl der Vorschläge, aus denen Goldmann per Entscheidung das
jeweilige ‚kontingente Thema‘ respektive eine
Anschlussmöglichkeit auswählen konnte. Da jede
Tondauer zwangsläufig mit einer Tonhöhe
verknüpft ist, und Goldmann natürlich nicht nur mit
fünf verschiedenen Tönen arbeitet, sondern ihm 15
Tonhöhen des zugrunde liegenden Modus‘ zur
Verfügung stehen – das Hauptaktionsfeld des Solisten
umfasst den Tonhöhenereich e1-d2-c3 (sieht man von der Kadenz
ab, die bis zum h3 hinaufführt) –, so ergibt sich
daraus die mathematische Frage, wie viele verschiedene
Fünftongruppen sind bei 15 verschiedenen Tonhöhen
möglich? Klavierkonzert (S. 77) Anders als beim Oboenkonzert, für das das
Motto
„alles ist Thema“ stehen könnte,
ließe sich analog für das Klavierkonzert das Motto
setzen: „alles ist Variation“ oder vielleicht
besser noch: „alles ist Veränderung“. Auch
eine so originelle Begabung wie Friedrich Goldmann kann oder will nicht
über gewisse Grenzen hinausgehen, die ihn aufgrund seines
Geburtsjahres als Zeitzeugen festschreiben. „Es ist nicht
alles zu allen Zeiten möglich, und gewisse Gedanken
können erst auf gewissen Stufen der Entwicklung gedacht
werden.“ (Wölfflin 1979, Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe, Dresden, S. 9) Für Goldmann scheinen Grenzen
jedoch eine geradezu magische Anziehungskraft besessen zu haben;
für ihn waren sie wie Herausforderungen, sie weit auszudehnen
oder gar zu überwinden. Er forderte wiederholt produktive
Veränderungen; kompositorische Experimente waren für
ihn ebenso unerlässlich wie das Nachdenken über
Kommunikationsstörungen bezüglich der
überkommenen Institutionen, dem Konzertsaal z. B. mit den von
ihm ausgehenden Zwängen. (Goldmann 1980, Auseinandersetzung.
In: Musik und Gesellschaft, Heft 6, Berlin, S. 339) Die zunehmende Komplexität in der menschlichen
Gesellschaft
widerspiegelt sich auch in den Kompositionen Goldmanns. Seine Konzerte
könnte man als Beobachtungen, als Versuche bezeichnen, in
denen er um eine emergente Ordnung ringt. „Ich kann mir die
gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken als
diejenige, bei der es nun bleiben könne; schlechthin nicht
denken als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles
Traum und Täuschung; und es wäre nicht der
Mühe wert, gelebt und dieses stets wiederkehrende, auf nichts
ausgehende und nichts bedeutende Spiel mit getrieben zu
haben.“ Johann Gottlieb Fichte (Die Bestimmung des
Menschen, Leipzig 1976, S. 157) schrieb diese Worte 1799, er konnte
nicht
ahnen, dass sie 180 Jahre später nicht minder aktuell sein
würden. Wir setzen hier für das Klavierkonzert das
Postulat eines komplex angelegten Variationenwerkes, wenn
„Variation“ nicht als Variation von etwas
Geformtem, einem Thema etwa, sondern (S. 78) Variation (bzw.
Permutation) als Entscheidungskette, als permanent
veränderndes Komponieren von kontingentem Material begriffen
wird, daher wäre der Terminus
„Veränderungen“ anstelle von
„Variationen“ wohl zutreffender. Man
könnte durchaus auch von einem kompositorischen Netzwerk
sprechen aufgrund der engen Verflechtung und der Verbindung zwischen
horizontalem und vertikalem Geschehen, was wiederum als
kompositorisches Handwerk so neu nicht wäre, doch aber als
Beleg für Goldmanns solides und
zeitgemäßes, komplexes künstlerisches
Arbeiten gelten könnte.
Oboenkonzert, obige Notenbeispiele hier dargestellt in ihrem
kontingenten Umfeld. Die Zahlen verweisen auf die Viertel-Dauern
Die Ckn sind Binomialkoeffizienten, die Anzahl der
k-elementigen Teilmenge (=5) einer n-elementigen Menge (=15). Geht man
von Kombinationen ohne Berücksichtigung der Anordnung der
Elemente aus (also der Abfolge z. B. der fünf
Tonhöhen) und berücksichtigt nur die Anzahl der
Kombinationen ohne Wiederholung von n Elementen zur k-ten Klasse, dann
sollte uns die folgende Formel ein brauchbares Ergebnis liefern:
Ckn=(nk)=n!/(n-k)!/k!, wobei n!=15! Daraus ergeben sich 360360
Permutationen bei 15 verschiedenen Tonhöhen für die
Solo-Oboe. Diese Anzahl von Fünftongruppen-Permutationen
wäre dann mit 14400 (120 Varianten von fünf
verschiedenen Dauern mal 120 Varianten von fünf verschiedenen
Vorschlägen) zu multiplizieren, um das für den
kompositorischen Gebrauch zur Verfügung stehende kontingente
Material des Solisten anzudeuten; das heißt, dem Komponisten
stünden 5.189.194.000 Permutationsmöglichkeiten zur
Verfügung.
Goldmann schafft sich mit dieser Fülle von
Permutationsmöglichkeiten innerhalb seines kompositorischen
Gesetzes einerseits einen großen Spielraum, andererseits aber
zwingt dieser ihn zur Reduktion des musikalischen Materials. Er muss
sich für jede Anschlussmöglichkeit neu entscheiden,
dieser Vorgang der Auswahl ist Teil der Definition seines
Personalstils. Goldmann „komponiert“ (ital.
comporre = zusammensetzen) seine Welt und schreibt damit Geschichte.