Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von 
Friedrich Goldmann 

Das Buch erschien 2014 im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad

Nachfolgend einige Auszüge mit Seitenzahlen, Abbildungen und Notenbeispielen, die auf das Buch verweisen.

Annäherung 1 (S. 8-60) 

Ansätze einer Gruppendynamik

(S. 14) „… Die Kommunikation von Musik und Bild richtet sich an die Wahrnehmungsfähigkeit der beteiligten Individuen. Es geht darum, ihnen etwas vorzuführen und zugänglich zu machen, was ihre sinnlichen Fähigkeiten in Anspruch nimmt, die als solche nicht kommuniziert werden können.“ (Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt/M., S. 187) Kommunikation ist aber die Formel, mit der die Gesellschaft operiert, also Operation ist Kommunikation. „Die Kunst erscheint als ein Teilsystem der Gesellschaft … die Herstellung des Kunstwerkes selbst ist eine Kommunikation.“ (Luhmann 2008, Die Autonomie der Kunst, in: Schriften zu Kunst und Literatur Nr. 19, Frankfurt/M., S. 420)

Wenn wir im Folgenden dem Phänomen der Gruppendynamik im 1. Satz des Oboenkonzertes … von Friedrich Goldmann nachspüren und herausfinden wollen, inwieweit der Komponist unter diesem Gesichtspunkt Operations-Abläufe konstruiert und komponiert hat, bedarf es, da Orchestergruppen – anders als z. B. in dem 1974 entstandenen „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ von Pierre Boulez, in dem acht explizit ausgewiesene Gruppen agieren – in der Partitur des Oboenkonzertes von Goldmann explizit jedoch nicht vorliegen, einiger Überlegungen. Zunächst wollen wir den Begriff der ‚Gruppe‘ (zur Abgrenzung etwa von Gemeinschaft, Truppe, Team oder Haufen und deren Mischformen) für uns näher bestimmen und fragen, was eine Gruppe ausmacht, um als solche auftreten zu können. Gruppen, etwa politische Parteien oder Organisationen, eint unter dynamischen Gesichtspunkten das gemeinsame Ziel. Unter Verhaltensaspekten kann ein ‚Sich Gruppieren‘ aber auch ein bloßes sich zu einer Gemeinschaft zusammenfinden bedeuten. Unter soziologischem Aspekt definiert F. Neidhardt den Begriff ‚Gruppe‘ folgendermaßen: „Gruppe ist ein soziales System, dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitgliederbeziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist.“ (Witte/Ardelt, Artikel Gruppe in: Wörterbuch der Soziologie: hrsg. von G. Endruweit und G. Trommsdorff, Stuttgart, S. 255) Der Begriff ‚Sinnzusammenhang‘ bezeichnet dabei das Abgrenzen nach außen; und eine diffuse Mitgliederbeziehung verweist auf die verschiedenen Ebenen, auf denen Mitglieder Beziehungen eingehen. Eine solche Explikation bezieht sich vornehmlich auf Kleingruppen. Die psychologische Variante der Explikation des Begriffes ‚Gruppe‘ geht von einer Situation aus, „in der man als Einzelperson veranlasst wird, das eigene Urteil (Reaktion) in Beziehung zu anderen Urteilen (Reaktionen) zu setzen.“ (Witte/ Ardelt, S. 255) Das heißt die Gruppe fungiert hier als umgebende Situation, die das individuelle Handeln beeinflusst.

Etwa zwischen diesen beiden Definitionen steht die Explikation von M. E. Shaw (Group Dynamics, 3/1981): „A group is defined as two or more persons who are inter-acting with one another in such a manner that each person influences and is influenced by each other person.“ (Witte/Ardelt, S. 255)

 

Oboenkonzert (S. 15)

Wenn das Orchester vom Komponisten im 1. Satz des Oboenkonzertes als quasi Gruppenstruktur konzipiert worden sein sollte, und einige Anzeichen wie das Artikulieren konflikthafter Prozesse, die – obwohl nicht neu – in ihrer technologischen Gestaltung und leidenschaftlichen Ausdruckskraft, in der Dialektik von Individuum und Masse ein soziologisches Zeugnis ablegen, sprechen dafür, dann ließe ein solcher Ansatz vor dem oben ausgeführten Hintergrund gruppendynamische Vorgänge erwarten. „Die Sozialpsychologie des Orchestermusikers ist die des ödipalen Charakters, schwankend zwischen Aufmucken und sich Ducken,“ formuliert Theodor W. Adorno in der VII. seiner zwölf theoretischen Vorlesungen unter dem Titel: ‚Dirigent und Orchester‘ (Adorno 1973, Einleitung in die Musiksoziologie, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann u. a., Bd. 14, Frankfurt/M., S. 301) und an anderer Stelle: „Erwägungen über den Dirigenten, das Orchester und die Relation zwischen beiden rechtfertigen sich nicht nur wegen der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Rolle im Musikleben, sondern vor allem darum, weil sie in sich etwas wie einen Mikrokosmos bilden, in dem Spannungen der Gesellschaft wiederkehren und konkret sich studieren lassen, vergleichbar etwa der community, der Stadtgemeinde, als einem soziologischen Forschungsgegenstand, der Extrapolationen auf die als solche unmittelbar niemals greifbare Gesellschaft erlaubt. Dabei handelt es sich nicht um formalsoziologische Gruppenbeziehungen, die unabhängig wären vom spezifischen gesellschaftlichen Gehalt, wie sehr auch manche Beobachtungen an Dirigent und Orchester wie Spezialfälle einer allgemeinen Gruppensoziologie erscheinen mögen.“ (Adorno 1973, S. 292)

Auch wenn es Adorno hier vornehmlich um die sozialpsychologischen Aspekte in den Beziehungen zwischen dem Dirigenten und dem Orchester (respektive den Orchestermusikern) geht und er den gewissermaßen Sonderfall einer Gruppensoziologie an diesen beiden Antipoden ausrichtet, so ist doch der Gedanke gruppendynamischer Vorgänge grundsätzlich und im Besonderen innerhalb des Orchesters von einigem Interesse, zumal Adorno die Imago von Macht keineswegs nur am Dirigenten ausrichtet, sondern auch auf den Virtuosen, den Solisten, und eben diesem wollen wir im Folgenden vornehmlich nachgehen und setzen noch folgenden Gedanken voraus: „Jeder Mensch muss sich im Verlauf seines Lebens mit den vier Forderungen nach Abgrenzung, Beziehungsfähigkeit, Dauerhaftigkeit und Wandlungsbereitschaft … immer wieder auseinandersetzen.“ (Stahl 2/2007, Dynamik in Gruppen; Weinheim etc., S. 228) Auf diese Aussage von Eberhard Stahl werden wir im Laufe eines möglichen nachfolgenden Erkenntnisgewinns bezüglich sich abzeichnender Gruppenbildung wiederholt zurückgreifen. Wir wollen nun in der Partitur nach Ereignissen suchen, die soziologische Gruppenbeziehungen, also gruppendynamische Relevanz zeigen oder unter solchen Aspekten betrachtet werden können.

Goldmann verwendet für den ersten Satz des Oboenkonzertes das … Tonmaterial, das im Tonhöhenumfang über sechseinhalb achttönige Modi reicht, die aus jeweils zwei spiegelbildlich isomorphen Fünftonreihen bestehen; sie sind (im Buch, RK) alphabetisch (A-G) aufgelistet und in der Reihenfolge ihres Erscheinens benannt;

 

Oboenkonzert, Modus A (α und β)

Da wir es mit einem Solokonzert zu tun haben, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Solopart und Orchester. Bereits der Beginn des 1. Satzes, das Anfangen der Solo-Oboe, weist auf die dominierende Rolle, die Funktion des Soloparts hin. Die Solo-Oboe führt ein thematisches Material ein, das sich in mehreren Parametern an der Zahlenfolge 1-5 festmachen lässt und das … in beliebiger Abfolge, also permutiert in jedweder Variation, eine kompositorische Substanz bildet, die sie dem Orchester gewissermaßen als zur Orientierung dienendes Konstrukt anbietet und ihm damit eine extrinsische Motivation zu geben versucht. … Für die Solo-Oboe, so ist anzunehmen, dient das Orchester als Ort, ein von ihr selbst gestecktes Ziel zu erreichen, nämlich Gruppen zur Veränderung ihrer Daseinsform zu bewegen, aus einer homogenen Klang-Masse agierende, intrinsisch motivierte Individualstimmen zu entwickeln, zu Individuen, die zu einer starken Kohäsion und enger Kommunikation in der Gruppe finden. Dass der Weg zu diesem Ziel mühelos verlaufen und in glatten, ausgefahrenen Bahnen zu suchen sein wird, ist bei einer Musik, wie sie Goldmann zu dieser Zeit komponierte, der sehr bewusst an den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit (das Konzert entstand 1978/79) teilnahm, wohl eher nicht zu erwarten.

Die offensichtliche Konzeption des Komponisten, die kontingente Thematik des Solisten zunächst an kleinere Gruppen des Orchesters heranzutragen, anstatt sich sogleich dem gesamten Orchester zuzuwenden, ist – so ist zumindest zu vermuten – von psychologisch wohlüberlegter Absicht, denn sie verspricht erfolgreicher zu sein und ist zudem sehr viel differenzierter gestaltbar im Hinblick auf den jeweiligen Charakter der Klein-Gruppe, als die direkte Konfrontation mit dem gesamten Orchester. Unter ‚kontingenter Thematik‘ wollen wir die Verwendung der bezüglich Tondauer und Anzahl der Vorschläge in vielfältigen Permutationen vorliegenden (Teil-) Modi verstehen (2 x 5 symmetrische Tonfolgen, die Dauernwerte 1-5, gleich ob Viertelnoten oder andere Werte und gleich in welcher Abfolge, sowie Repetitionen oder melodische Floskeln oder melodische Gruppen von 1-5), aus deren kaum überschaubaren Fülle Goldmann per Entscheidung seine Auswahl treffen musste. … (vgl. Annäherung 2)

Wohl jedes Kunstwerk beginnt mit einer ersten Operation („Operation immer begriffen als ein Ereignis, das […] dann zu weiteren Ereignissen führen kann“ (Luhmann 2008, Die Autonomie der Kunst, in: Schriften zu Kunst und Literatur Nr. 19, Frankfurt/M., S. 420), bei der, in unserem Fall der Komponist sowohl zu unterscheiden hat (etwa Technik, Genre) als auch Entscheidungen treffen muss, auf die alle seine weiteren Differenzierungen zurückgreifen oder um in die andere Richtung zu denken, auf die alle seine weiteren Differenzierungen aufbauen. „Eine einmal in Gang gesetzte Sequenz von Differenzen, die allesamt eine Entscheidung für etwas und gegen etwas treffen, bindet sich selbst und gewinnt somit Form. Der Horizont der Anschlussfähigkeit neuer Operationen innerhalb des Werkes wird immer enger.“ (Luhmann 2008, S. 457)

Die Einstiegsphase für die Gruppenbildung ist die so genannte ‚Gruppenfindung‘; in der Gruppenpsychologie spricht man von „Forming“. Die Solo-Oboe breitet in den ersten zwei Takten den kompletten Modus A aus (s. o: 2 x 5 Töne), die Dauernwerte 1-5 Viertel (hier noch ergänzt durch zwei Dauern von 6 Vierteln, insofern noch nicht mit letzter Konsequenz) werden postuliert sowie die Zahl der Vorschlagsnoten 1-5 verwendet, auch hier noch nicht mit der unabdingbaren Klarheit des später deutlich werdenden Prinzips, sondern durchsetzt mit zusätzlichen 6-8-9 Vorschlagsnoten, die sämtlich auf die Hauptzeit fallen, also nicht eigentlich Vorschläge sind. Es ist gewissermaßen ein erster Versuch, einzelne Instrumentalgruppen des Orchesters auf ihre Reaktionsfähigkeit respektive die Bandbreite ihrer Aufnahmebereitschaft zu testen, der Solist schafft eine Erwartungshaltung. …

(S. 20) Es wird nun interessant sein zu verfolgen, wie Goldmann den Solisten agieren lässt und wie sich ein Forming in den verschiedenen Instrumentengruppen gestaltet, das heißt wie die Beziehungsfähigkeit innerhalb der Gruppen wächst.

(S. 25) Im Prozess der Gruppenentwicklung werden fünf Phasen unterschieden: Forming – Storming – Norming – Performing – Re-Forming. (Stahl /2007, S. 46) Da wir es hier nicht mit einer personellen Gruppenarbeit aus sich heraus, also mit der Fähigkeit einer Selbststeuerung zu tun haben, wo eine solche Phasenabfolge im Gruppenalltag verfolgt werden kann, sondern eher mit einem evolutionären Ablauf aufgrund stark extrinsischer Einflüsse, wo der Solist die Evolutionsfähigkeit des Orchesters respektive von Orchestergruppen und deren Anpassungsfähigkeit auslotet; wollen und können wir uns nur vage an diese fünf Phasen des Gruppenprozesses anlehnen.

Die erste Phase, die Gründungsphase des Gruppenprozesses war … das Forming. In unserem Fall gab es zunächst nur eine geringe Reaktion von den Orchestergruppen auf die Einspielungen des Solisten, diese Gruppen waren anfangs gewissermaßen in sich ruhend, im eigentlichen Sinne der Gruppendynamik noch keine Gruppe, eher eine schwach strukturierte Masse, die engen, elementaren Gesetzen folgt (Tonmaterial von Modus A). Erst nach dem dritten Einsatz gelingt es der Solo-Oboe mit einer Vorschlagskala auf der Hauptzeit über zwei Modi (A und B) hinweg (T. 49), die Gruppe der Violinen I und II zu einem zaghaft beginnenden Dialog (T. 50 ff. pp) und damit zu Veränderungen zu animieren.

Oboenkonzert, die Violinen übernehmen das c3 der Solo-Oboe

Die Violinen stimmen in den hohen Ton (c3) der Solo-Oboe ein (siehe NB oben) und greifen im folgenden auf das Material der Solo-Oboe zurück: Repetitionen in den Zahlenfolgen 1-5 sowie Dauern, die sich wenige Takte später ebenfalls in die Zahlenstruktur 1-5 einordnen, ebenso die Vorschläge. Damit zeigen die Violinen als dritte Gruppe Vereinbarungsstrukturen mit der kontingenten Thematik der Solo-Oboe.

Eine stärkere Nachdrücklichkeit des Solisten führt dazu, dass weitere Instrumente das kontingente Thema von ihm aufgreifen; als erstes folgerichtig die klangverwandten Orchester-Oboen sowie die drei Flöten aus der ersten Gruppe, deren Einsatz sich auf die Dauernstruktur von 1-5 Viertel auf dem c3 beschränkt bzw. damit den bislang oberen Rahmenton festigt (T. 73-77). Mit dem Einsatz der Trompeten und Posaunen T. 78 ff. und später auch der Hörner, Holzbläser und Streicher befinden wir uns in der Stormingphase, die ihren Abschluss mit T. 107 findet. Die erste und zweite Gruppe zeigt eine zunehmende Affinität zum angebotenen kontingenten Thema der Solo-Oboe. Die Dauernwerte 1-5 werden durch angehängte Achtel-Noten verschleiert (T. 82-84). Die Streicher bewegen sich im derzeit vorgegebenen Rahmen von zwei Modi (Modus A und B). Ihre Wandlungsbereitschaft und Beweglichkeit greift auch auf die Holzbläser über.

(S. 26) Eine vierte Gruppe, die Orchestergruppe der 5 Schlagzeuge, bringt sich mit der ihr eigenen rhythmischen Komplexität ein (T. 123-127); jeweils 5 Noten im Wert von Vierteln, Achteln oder Sechzehnteln werden auf fünf unterschiedliche Dauernwerte von 1-5 verteilt, zunächst sukzessiv (T. 23-25): Schlz. II auf 5, Schlz. III auf 4, Schlz. IV auf 2, Schlz. V auf 1 und Schlz. I auf 3 Viertel; dann simultan (T. 126) und „gespiegelt“ im T. 133:

Oboenkonzert, Fünf Schlagzeuge (NB 11, S. 26)

Oboenkonzert, Fünf Schlagzeuge T. 126 und T. 133 (NB 11, S. 26).

Die neue Struktur, die auf die Höchstzahl 5 des Repetitions-Regelwerkes insistiert und dabei durch interne Verdichtung das Zeitgeschehen komprimiert, bleibt dennoch gleichzeitig im Dauern-Regelwerk (1-5), aber sie zeigt eine neue Gruppenqualität. Diese komprimierte Figur, ergänzt durch Vorschläge, erscheint dann am Schluss des zweiten Satzes noch einmal. Die Komplexität der Schlagzeug-Gruppe in den T. 123-127 und T. 133-134 respektive T. 135a-c bleibt nicht ohne Folgen.

Die vier Gruppen haben sich – bei aller Variabilität innerhalb der einzelnen Gruppen – zu einer Kooperationsstruktur gefunden. Das nachvollziehbare Regelwerk ist vor allem in der Frühphase zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Aktivitäten des Gruppencoachs, die extrinsische Motivation des Solisten zurückzuführen. Dieses Übereinkommen, die Konformität, ist aber wohl auch in wachsendem Maße einer Selbstorganisation der Orchestergruppen zuzuschreiben, womit letztendlich die Groß-Gruppe ‚Orchester‘ ihre Evolutionsfähigkeit bewiesen hat. Elemente des kontingenten Themas bewegen sich fließend und in vielfältiger Variation durch verschiedene Orchestergruppen. Der Solist kann in einer ausgedehnten Kadenz (T. 172 ff.) sein ganzes Können unter Beweis stellen und frei agieren, ohne permanent das Regelwerk für das Orchester in Erinnerung rufen zu müssen. Die Gruppen sind im Performing angekommen.

(S. 27) Aufgrund der gefestigten Gruppen war es nun möglich, den Modus-Bereich zu erweitern und sich neuen Räumen zu öffnen. Reichte der Skalenumfang bis zum T. 131 vom e1 bis zum c3 (Modus A und B), so weitet sich im Takt 132ff. der Aktionsradius zur Tiefe bis zum Kontra D (über die Modi C-D-E-G) aus. Dieser Erweiterung im Orchester setzt der Solist in einer kurzen Kadenz (T. 135) eine Erweiterung zur Höhe durch den Modus F bis zum h3 entgegen. Beide Extremgrenzen sind damit erreicht und ein fast unendlich scheinender Freiraum geschaffen. Sollte Goldmann damit den erst über zehn Jahre später erfolgenden Mauerfall, die Öffnung der engen Grenzen vorausgeahnt, zumindest doch aber erhofft haben? Damit wäre das Konzert ein Zeitdokument par excellence, eine Widerspiegelung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen, das Komponieren des Prinzips ‚Hoffnung‘.

Die veränderte Struktur der vierten Gruppe mit den 5 Schlagzeugen wirkt sich nun auf die Hörner aus; diese adaptieren ab T. 182 ff. – in einer eher nicht erwarteten Entwicklung – die komplexen Rhythmen und antizipieren mit den numerisch strukturierten Repetitionen, Quintolen in unterschiedlichen Dauern, gewissermaßen den Einsatz der Schlagzeuge (T. 189 ff.) und bilden nun zusammen mit diesen eine Gruppe.

Die Hörner werden als neue Elemente in die bestehende Struktur der Schlagzeuggruppe integriert. Diese Akkomodation dient in der Gruppendynamik als eine effiziente Strategie, Komplikationen im Performing gewachsen zu sein. Anfangs war die Gruppe der 5 Schlagzeuge nur als quasi Akzentgeber eingesetzt (T. 67, 78), entwickelte sich dann über eine Stormingphase und schließt mit T. 152 respektive 155 die Formingphase ab; nun scheint es, dass ihr Auftreten eine neue Orientierung erhält und die Performingphase (T. 190) erreicht hat.

Die Komplexität nimmt von T. 181 an in einem bislang nicht gekannten Maße zu. Gruppen verändern sich und bilden Affinitäten zu anderen Gruppen, die schon erwähnten Hörner aus der zweiten Gruppe zum Schlagzeug, der vierten Gruppe; die bislang zu keiner effizienten Gruppe gehörigen Bratschen zur dritten Gruppe, den Violinen (T. 182 ff.), so dass wir in dieser Performing-Phase und auf dem Höhepunkt des ersten Satzes (etwa T. 191-194, in den tiefen Streichern bis T. 198), deutlich 5 Gruppen nach Partiturordnung unterscheiden können: I Flöten, Oboen, Klarinetten, II Bassklarinette, Fagotte – III Trompeten/Posaunen – IV Hörner und fünf Schlagzeuge – V Streicher; Gruppen, die sich variativ permutierend in der vollständigen Zahlenfolge 1-5 organisieren.

 

T 191 ff bis Pos 3
Oboenkonzert, Holzbläser, Blechbläser, T. 191-193 (NB 13, S. 28)

Oboenkonzert, Holzbläser (Gruppe I: Fl., Ob. Klar., II: Bklar. Fg., Kfg.), Blechbläser (Gruppe III: Tr., Pos.),
Schlagzeuge und Hörner (Gruppe IV), Streicher (Gruppe V), T. 191-193 (S. 28/29)


(S. 29) Wir gehen davon aus, dass die vage Anlehnung an das aus der Gruppenpsychologie entlehnte Prinzip der Gruppendynamik von Forming – Storming – Norming – Performing und Reforming diskutabel ist, aber möglicherweise auch individuell anders gesehen werden kann. Der gruppendynamische Ansatz jedenfalls schien uns so interessant, dass er durchgespielt wurde. Die Entwicklung der unterschiedlichen Gruppen, ihre Veränderung in der Zusammensetzung sowie die komplexe Schichtung von fünf Gruppen auf dem Höhepunkt des 1. Satzes lassen durchaus ein adäquates Denken des Komponisten vermuten.

Natürlich kann dieser Versuch bestenfalls eine Anregung für eine umfassendere Untersuchung möglicher Parallelen von kompositorischen und soziologischen Ambitionen Friedrich Goldmanns und hier speziell in den Solokonzerten sein. Interessant und vielversprechend ist der sozialpsychologische Aspekt in seinen Konzerten allemal, ihn gründlich zu analysieren, würde den durch und durch politischen Charakter von Goldmanns Musik offenbaren; schrieb Goldmann doch in seinem Salut für die Leipziger Gruppe: „Den Umgang mit wechselnden Hierarchien zu üben ist notwendiges Training in Sachen Demokratie, obschon in einem bescheidenen, eng umgrenzten Feld, nämlich dem der Realisierung Neuer Musik … Dass solche Versuche Modellcharakter für die Gesellschaft als Ganzes anzunehmen vermöchten, wäre gewiss eine übertriebene Erwartung (sie mögen übrigens darauf hinzielen), …“ (B. Glaetzner/R. Kontressowitz 1990, Spielhorizonte, Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« 1970-1990, Leipzig, S. 19).

(S. 30) So sind denn Gegenstand und Ziel seines Komponierens „an sozialer Praxis orientiert und auf die Veränderung ihrer ästhetischen Normen ausgerichtet.“ (Schneider 1979, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig, S. 84) Goldmann ist ohne Zweifel einer der Komponisten, die die musikalisch-kompositorische Entwicklung in der DDR in den 70er und 80er Jahren nicht nur repräsentiert, sondern auch wesentlich vorangetrieben haben.