Spätestens in den Konzerten von Opus VII (ca. 1715)
darf man damit
rechnen, dass auch Albinoni sich gewissen Einflüssen des
Vivaldischen Konzertes nicht entziehen konnte. Stellvertretend
für die Anlage der Konzertsätze in den Oboenkonzerten
von
Opus VII mag der erste Satz des sechsten Konzertes stehen. Das
Tonikafeld am Anfang ist der Kontrastgestaltung nach dreiteilig: Tutti
– Solo – Tutti. Das erste Tutti ist das Ritornell
und
enthält drei Glieder: den die Tonika befestigenden Vordersatz,
einen die Tonika umkreisenden Gegensatz (Fortspinnung) und einen kurzen
Epilog (vgl. hierzu die gleiche Anlage des dritten Satzes von Opus VII,
6). Der Vordersatz wird von der Solovioline um einen Takt
verkürzt
wiederholt, ihm folgt das Tutti mit dem Gegensatz – abermals
um
einen Takt verkürzt – und der Epilog. Die Anlage der
Eröffnung ist also real zweiteilig, wobei der zweite Teil ein
um
zwei Takte verkürztes da capo ist.
Bei Vivaldi ist die Einbeziehung des Solos in das erste
Tonikafeld
ebenfalls bekannt (Concerto con Violino Solo obligato, E-Dur, Opus III,
Nr. 12_I). Während Vivaldi das Solo organisch einordnet, das
heißt ihm eine Funktion zuerteilt, nämlich die, das
in die
Dominante modulierte Ritornell wieder in die Tonika
zurückzuführen, verwendet Albinoni das Prinzip der
Reihung,
der Wiederholung in der gleichen Tonart.
Auch hier begegnet uns wieder eine Eigenart Albinonis, die Schlusskadenz eines
Solos bereits vom Tutti mitspielen zu lassen und dadurch die Konturen
des Kontrastes zu verwischen – was an dieser Stelle auch
verständlich erscheint, da es sich um einen sogenannten
Binnenkontrast handelt, einen Kontrast innerhalb einer tonikalen
Fläche (vgl. Opus VII, 2_I, 3_I). Abweichend vom Anfangstutti
beginnt die Reprise mit der Solovioline. Der zweite Teil der
Eröffnung erscheint tongetreu wieder, ihm schließen
sich
– abermals von der Solovioline vorgetragen – der
Vordersatz
und der Gegensatz an; der ausgedehnte Epilog wird vom Tutti gespielt.
Von den Mitteltutti ist das Ritornell auf der Dominante
vollständig, das nachfolgende in der Tonika bringt den
Vordersatz.
Die Nebentonart h-Moll ist nur Zielpunkt einer Modulation des Solo. Das
Tutti übernimmt die Rückmodulation in die Tonika.
Harmonisch reichhaltiger ist der erste Satz des neunten Konzertes von
Opus VII, in dem neben der Dominante die Tonikaparallele, die
Subdominantparallele und die Subdominante erreicht werden. Das
Anfangsritornell entspricht in seiner Anlage dem des ersten Satzes aus
dem sechsten Konzert.
Das Konzert Opus VII, Nr. 2, C-Dur, für zwei Oboen
bietet im ersten Satz ein Beispiel für das oben
erwähnte
Taktzahlenverhältnis zwischen dem Eröffnungstutti und
dem
Schlusstutti von 2:1. In einigen anderen Konzerten scheint dieses
Verhältnis nicht zuzutreffen, z. B. Opus VII, Nr. 5_I
für zwei
Oboen soli, Nr. 6_I für Oboe solo oder Nr. 8_I für zwei
Oboen
soli. Hier ist die stärker zum Rondo tendierende harmonische
Anlage T – D – T – Tp die Ursache
für eine kurze
eröffnende Tonikafläche.
Der erste Satz des achten Konzertes ist noch in einem anderen
Zusammenhang interessant. Er enthält tongetreu eine der
melodischen Lieblingswendungen Albinonis, auf die bereits im ersten
Satz des zwölften Konzertes von Opus V ausführlich
eingegangen wurde. Hier ist sie jedoch weniger deutlich aus dem
Ritornellthema abzuleiten. Sie erscheint nur viermal innerhalb von zwei
Takten und gewinnt für den Aufbau keinerlei thematische
Bedeutung.
Merkwürdigerweise geht Talbot („Vivaldi und
Albinoni“
in: ‚Informations‘, København 1972, S.
539) aufgrund
dieser Praxis, ein Sequenzmodell aus einem früheren Werk zu
verwenden, mit Albinoni scharf ins Gericht, indem er ihm
Sparmaßnahmen (economies of scale), die Verwendung
arbeitsparender Einfälle (labour-saving devices) vorwirft.
Für Giazotto ist der Zyklus Opus IX von je vier Konzerten für Violine solo (1, 4, 7,
10), Oboe solo (2, 5, 8, 11) und zwei Oboen (3, 6, 9, 12) der
Höhepunkt der Albinonischen Instrumentalkunst. Diese Konzerte
sind
nach seiner Auffassung das einheitlichste, logischste Schlusszeugnis
einer langjährigen Verfeinerung und Vertiefung (Remo
Giazotto,„Tomaso Albinoni“
, Milano 1945, S. 206: „… l’op. IX
è la vera definitiva conclusione estetico dell’arte strumentale
albinoniana. Questi Concerti sono la più coerente documentazione
finale di trent’anni di affinamenti e di approfondimenti
continui.“ / Opus IX ist der wahre, endgültige
ästhetische Abschluss der Instrumentalkunst Albinonis. Diese
Konzerte sind die folgerichtigste Schlussdokumentation eines
dreißigjährigen Strebens nach Verfeinerung und
ständiger Vertiefung.).
Giazottos Urteil würde möglicherweise anders
ausgefallen sein, wenn er die 12 Concerti Opus X gekannt hätte, denn Opus
IX ist kein Endpunkt, sondern eine Phase in der Kontinuität der
Entwicklung, die über Opus X bis zu den sechs Sinfonie a
quattro con Minuetto e Trio führt (Darmstadt, Hessische Landes- und
Hochschulbibliothek, zeitgenössische Abschrift). Die
zunehmende Verdichtung der inneren Struktur und die Ausweitung der tonikalen
Abschnitte in Opus VII, vor allem aber in Opus IX und Opus X
führt zum Blockhaften in der Anlage eines Konzertsatzes und steht damit im
Grunde dem Formwillen Vivaldis nahe; in der Ausführung, d. h.
in der Durcharbeitung trägt es aber doch für Albinoni
typische Züge.
Im vierten Konzert von Opus IX variiert Albinoni das Formschema aus Opus
II, Nr. 4. In den frühen Konzerten liefen Vs. und. Fsp.
nacheinander ab, bevor Teile davon wiederholt wurden. Bereits in Opus
VII wird das Mittel der Wiederholung zur Weitung der Teile innerhalb
des Vordersatzes in Form der Motivwiederholung angewendet und gewinnt
somit für die Themabildung eine Bedeutung:
Opus VII, 3_I
Opus VII, 6_I
Opus VII, 7_I
Opus VII, 9_I
Opus VII, 10_I
Ähnlich auch in Opus IX, Nr. 7_I und anderen.
In Opus IX, Nr. 4_I wird der gesamte Vordersatz im Piano wiederholt
(siehe auch den dritten Satz von Opus IX, Nr. 7), so dass nicht das
Thema beeinflusst wird, sondern die Anlage des
Eröffnungstuttis, die hier im Echo-Verfahren gestaltet ist. Dem nachfolgenden
sequenzierenden Gegensatz schließen sich ein weiterer
Gegensatz
(T. 14/15) und ein Epilog (T. 18) an, beide werden jeweils im Piano
wiederholt. Mitunter wird von dem in Thema und Gegensatz
unterschiedenen Vordersatz lediglich das Thema tongetreu wiederholt
(jedoch nicht im Piano!) und der Gegensatz variiert, so z.B. im ersten
Satz des zehnten Konzertes von Opus IX (1961 hrsg. von R. Giazotto,
Ricordi, Milano)
Wie eng die Verbindung zu Formprinzipien aus Opus II ist, zeigt die
Verwendung des dreizehn Takte zählenden Vordersatzes nach
Abschluss des Ritornells. Wie in Opus II, Nr. 1_I wird der Halbschluss
auf der Dominante umgedeutet als neue Tonika.
Die vor allem in den Konzerten des Opus VII erarbeitete Distanzierung
der tonikalen Flächen T und D (bzw. Tp) durch eine relativ
eigenständige solistische Episode (z. B. Opus VII, Nr. 8_III)
ist
im zehnten Konzert von Opus IX wieder zurückgenommen. Das
erste
Solo tritt erst in der Dominante nach dem Vordersatz ein
(ähnlich,
wenngleich weniger prägnant und durch eine modulierende
Tutti-Episode ausgebaut, ist der erste Satz des ersten Konzertes aus
Opus IX).
Stellvertretend für die Konzertsätze der
Oboenkonzerte (für eine Oboe) in Opus IX mag das Formschema des
Anfangssatzes aus dem achten Konzert stehen. Typische Merkmale sind der
dreimal
erscheinende Vordersatz in der Tonika beziehungsweise die Teilung der
Wiederholung des Ritornells in den vom Solisten vorgetragenen
Vordersatz und die von den Ripieni gespielte Fortspinnung und der
zweimal modulierende Vordersatz (T. 38ff. bzw. T. 66ff.). Das
dreimalige Auftreten des Vs.
im Eröffnungstutti setzt eine thematische
Übereinstimmung zwischen Ritornell und Solo voraus, wie sie in
Opus VII die Konzerte
3_III, 6_I+III, 9_I+III, 12_I und in Opus IX die Konzerte 2, 5, 8 und
11 in
beiden Ecksätzen aufweisen. Dieses Verfahren weist schon in
gewisser Weise auf das Tutti-Solo-Verhältnis im sonatenhaften
Konzert der nachfolgenden Zeit voraus. Es wird offenbar von
Albinoni häufiger angewendet als von Vivaldi, wo es in Opus
III nur im 6. Konzert „und auch im Gesamtschaffen …
nicht
häufig vorkommt“ (Rudolf Eller im Vorwort der
Vivaldi-Ausgabe des 6. Konzerts von Opus III, EP 3794a, Leipzig 1958).
Bedeutungsvoll ist die Tp-Ebene durch die Wiederholung
gegenüber
der dritten tonikalen Fläche, die ohne Wiederholung
abläuft.
In den Konzerten Nr. 2, 4, 6, 8, 10 und 12 von Opus X kommt den
Ripienisten eine größere Bedeutung zu. Das dritte
Konzert
enthält im ersten Satz zwei Concertino-Episoden; die
übrigen,
das 1., 5., 7., 9. und 11. Konzert, sind reine Ripienkonzerte mit
einigen Soli im Violoncello, jedoch nicht im konzertierenden Sinne,
vielmehr zur stärkeren Abstufung des dynamischen Kontrastes.
Auch
das zweite Konzert zeichnet sich als Violinkonzert nicht sonderlich
aus. Die Solovioline tritt im Anfangssatz erst in der letzten Tonika
– kurz vor Schluss des Satzes – ein, im Andante
schweigt
sie, und im Schluss-Satz sind ihr ebenfalls nur kurze Passagen
zugedacht. Im vierten Konzert moduliert eine Solopassage von der
zweiten Tonika (Modulationsschema: T - D - T - Tp - T) in die Tp. Ein
zweites Mal erscheint das Solo im Schlusstutti, der dritten
Tonikafläche, in motivischer Gestalt; ähnlich ist das
Tutti-Solo-Verhältnis im sechsten Konzert.
Umfangreiche Soli enthalten die Konzerte Nr. 8, 10 und 12. Das achte
Konzert bietet eine interessante Variante mit der Wiederholung des
Vordersatzes des Ritornells. Im ersten Satz
wird nicht wie in Opus IX, 4_I auf den Echo-Effekt
zurückgegriffen,
sondern zwei Tonikalitäten laufen hier gewissermaßen
nebeneinander her; dem Vordersatz in der Tonika folgt der Vordersatz in
der Tp. Der erste Gegensatz führt in die Tonika
zurück, der
zweite Gegensatz ist ähnlich wie im Ritornell des ersten
Satzes
aus dem achten Konzert von Opus III von Vivaldi ein harmonisch
pendelnder, hier zwischen Subdominantparallele bzw. Subdominante und
Tonika. Der nachfolgende Gegensatz (oder Epilog) ist mit den
durchlaufenden Sechzehntelnoten ein dem ersten Gegensatz paralleler
Fortspinnungsteil, wahrt jedoch seine Eigenständigkeit durch
Akkordbrechung, im Gegensatz zu den Durchgängen und
kleinintervalligen melodischen Bildungen der ersten Fortspinnung.
Das zweite Tutti verzichtet auf eine Wiederholung des Vordersatzes und
lässt diesem den dritten und zweiten Gegensatz folgen. Das
dritte Ritornell in der Dominante ist nur durch das Thema vertreten.
Gleich
der Vordersatzwiederholung im ersten Tutti steht unmittelbar nach ihm,
das heißt ohne vermittelnden Übergang, das nahezu
vollständige Ritornell. Der Vordersatz besteht ursprünglich
aus drei Takten, wovon der zweite den ersten wiederholt; diese
Wiederholung entfällt hier. Es ist eines der vielen Beispiele
für die elementare Bedeutung der Wiederholung in der Struktur
des Albinonischen Ritornellthemas. Solovioline und Coda
beschließen
den ersten Satz.
Der zweite Satz ist durch den wiederholten Rhythmus von punktiertem
Achtel und zwei gebundenen Zweiunddreißigsteln deutlich mit dem
Thema des ersten verbunden. Der gesamte Satz (32 Takte) wird –
abgesehen von fünf Schlusstakten –
von der Solovioline bestritten. Der dritte Satz enthält tongetreue
Figuren des ersten Satzes. In seiner Thematik fehlt zwar das den ersten
und
zweiten Satz verbindende Charakteristikum; eine Verwandtschaft ist
dennoch unschwer in der Umkehrung des Themakopfes zu erkennen:
Bemerkenswert an diesem Satz ist das ausgeschriebene und mit einem
Anhang versehene da capo, das in dieser Ganzheit relativ selten
vorkommt (Opus X, Nr. 2_III, Nr. 10_I, Nr. 12_I+III). Hierin unterscheidet
sich Albinoni offenbar grundlegend von Vivaldi; denn letzterer schreibt
meist das Abschlussritornell nicht aus (Walter Kolneder,„Die
Solokonzertform bei Vivaldi“, Strasbourg/Baden-Baden 1961, S.
43), sondern setzt dafür (möglicherweise aus Produktivitätsgründen) das D. C.
Verkürzungen des Schlussritornells werden dann durch die
Vorschrift „D. C. al Segno # sino al Segno ?“
angezeigt,
wie im Fagottkonzert P 318 (E.P. 9149, Leipzig 1970 (hrsg. von W.
Kolneder). Vereinzelt findet man ausgeschriebene Umformungen, wie wir
sie von Albinoni kennen.
In den Konzerten Nr. 10 und 12 von Opus X prägt sich deutlich
ein
Hinwenden zu Formprinzipien seiner Frühzeit aus. Die Konzerte
werden wieder kürzer; die durchschnittlich 112 Takte eines
ersten
Satzes in Opus IX sind auf 84 Takte zusammengeschrumpft;
ähnlich
ist das Verhältnis auch in den Schluss-Sätzen.
Die Wiederholungen des Ritornells in der ersten Tonikafläche
weichen gliederreichen Ritornellen. Die Satzgliederung ist klar und
einfach.
Das harmonische Schema des 10. Konzertes ist in beiden
Ecksätzen
gleich: T – D – Tp – T, das des
zwölften
Konzertes ebenfalls: T – D – T – (Tp
– Dp)
– T.
Dem Anfangstutti von 13 Takten im ersten und 23 im dritten Satz des
zwölften Konzertes stehen 24 bzw. 52 Takte im Schlusstutti
gegenüber.
Das Erscheinen eines dritten Tonikatutti muss Gegenstand einer
gesonderten Untersuchung bleiben, da es mit dem Hinweis auf den
stärkeren Rondocharakter wohl nicht ohne weiteres zu
erklären
ist. Neben dem eigenständigen Ritornell kann es sein:
1. Ausgangspunkt für Modulation im Tutti oder
Vordersatz mit nachfolgendem Solofortspinnungsteil,
2. Station in einer Thema-Sequenz,
3. Pendant zum unmittelbar vorherrschenden Ritornell und mit
diesem zusammen eine Parallele zu Aufbauprinzipien des
Eröffnungstutti.
Im Opus X, Nr. 8_I ist die mittlere Tonika Ausgang einer Modulation im
Solo. Das Wesentliche, das in diesem Schema zum Ausdruck kommt, ist das
immer wiederkehrende Thema durch die Themagleichheit von Ritornell und
Solo. Während in Opus VII und Opus IX die Perioden geschlossen
wiederholt werden, konzentriert sich der Ablauf des gesamten Satzes auf
die zwei Takte des Themas.
Ungeachtet aller analytischen Anmerkungen handelt es sich bei den
Konzerten Opus X um musikalisch beeindruckende und spieltechnisch
anspruchsvolle Werke.