Motivische Arbeit

Johann Sebastian Bach war es vergönnt, die Solokonzertform „zu einer größten musikalischen und geistigen Intensivierung“ (Rudolf Eller, „Das Formprinzip des Vivaldischen Konzerts“ Leipzig 1957, S. 103) zu steigern. Er erreichte eine „gehaltliche Verdichtung“ (Rudolph Stephan, „Die Wandlung der Konzertform bei Bach“, in: Musikforschung VI, Kassel u. Basel 1953, S. 127), indem er vor allem auch dem Orchester sowohl im Tutti-Ritornell als auch beim Begleiten des Solos seinen Anteil an der Polyphonie gab. Das starke Einbeziehen des Orchesters in die Solo-Begleitung erinnert mehr an Albinoni als an Vivaldi, letzterer beschränkt sich häufig auf den Basso continuo.
Die von Heinrich Besseler („Bach als Wegbereiter“, in: ‚Archiv für Musikwissenschaft‘, Jg. 12, 1955, S. 37) J. S. Bach zugeschriebene Entwicklung der thematischen Arbeit im Konzert ist nach Kolneders Darstellung bereits bei den Italienern, besonders bei Vivaldi, ausgeprägt.
Bei Albinoni finden sich Beispiele einer Verarbeitungstechnik, die man als Motivabspaltung oder motivische Arbeit bezeichnen kann. Im ersten Satz von Op. II, Nr. 2 wird aus dem ersten der drei Gegensätze der Fortspinnung des Tutti (a) eine Figur (b) herausgelöst und motivisch in einer Sequenz verarbeitet:

albi ma 1

albi ma 2

Im nachfolgenden Solo der Violine (c) führt die verdichtete Sequenzfolge, nachdem die erste Sechzehntelgruppe der Repetition enthoben (b) und in der neuen Zusammenstellung durch Zäsuren in ihrem Fluss gehemmt erscheint, in einer Steigerung zum nächsten Tutti-Einsatz:

albi ma  3

Hinsichtlich der durchführungsartigen Motivverwendung ist das C-Dur-Konzert aus der Sammlung Concerti a cinque dei Signori Valentini, Vivaldi, Albinoni, Veracini, St. Martin, A. Marcello, Rampin, Predieri (Amsterdam 1716) interessant. „Die Bezeichnung ‚thematische Arbeit‘ ist geschichtlich in dem Augenblick gerechtfertigt, wo das benutzte Motiv als ein Bestandteil des Themas erkannt wird.“ (Besseler, „Singstil und Instrumentalstil in der europäischen Musik“, Bamberg 1953, S.239)

Karl Heinz Wörner („Das Zeitalter der thematischen Prozesse in der Geschichte der Musik“, Regensburg 1969, S. 68) erkennt aus den Vivaldischen Konzerten zwei Formen des motivischen Ausgangs der thematischen Arbeit. „Das Material, das zur Verarbeitung benutzt wird, ist (1.) entweder das Kopfmotiv des Ritornells oder es ist (2.) auf dem Wege eines spezialisierteren Abspaltungsprozesses aus dem Ganzen des Ritornellthemas irgendwo hergeholt.“

Aus dem Unisono-Thema des Anfangssatzes werden Motive abgespalten, die in den das Solo begleitenden Ripienstimmen wieder auftauchen oder vom Solo selbst aufgegriffen werden. Beispiele enthalten auch die Konzerte Op. VII, Nr. 6, 8, 9 und Op. IX, Nr. 2, 9, 11, 12; auch Concerto III aus Harmonia Mundi.

Concerto C-Dur, Nr. 9, 1. Satz (aus: Concerti a cinque …, J. Roger, Amsterdam, No. 432)
Das Unisono-Ritornell

albi ma  4

daraus abgeleitete Motive (T. 58, 59):

albi ma 5

albi ma 6


Vor dem Eintritt in die Schlusstonika erscheinen die vom Unisono-Thema abgeleiteten Motive in größerer Dichte. Der Höhepunkt im Schlussritornell beginnt mit T. 65; hier erklingen Solofiguration und das Unisono-Thema gleichzeitig:

albi ma 6


Hans Engel („Das Solokonzert“ in: ‚Das Musikwerk‘ hrsg. von K. G. Fellerer, Köln 1964, S. 5) bezieht sich auf dieses Konzert und spricht von einer hohen „Kunst der thematischen Arbeit im frühen Konzert!“.

Verknüpfungen dieser oder ähnlicher Art finden sich bei Bach weitaus häufiger; im E-Dur-Konzert (BWV 1042) z. B. auf engstem Raum. Der Vordersatz – bestehend aus drei Akkordschlägen, die die Tonart festlegen und einer rhythmischen Figur – wird beim ersten Soloeinsatz (innerhalb der Tonika, T. 12) in seine beiden Motive zerlegt, und diese erklingen simultan, wobei die Solo-Violine das Dreiklangsmotiv übernimmt, das später für die Begleitung der Soli bedeutungsvoll wird.
Auf die Herkunft dieser Verarbeitungstechnik wurde hingewiesen. Zahlreiche Beispiele aus den Vivaldischen Konzerten, darunter vor allem das Flötenkonzert P 77, dessen Ritornellkopf mit dem des a-Moll-Violinkonzertes von J. S. Bach (BWV 1041) verwandt ist, weist Walter Kolneder („Die Solokonzertform bei Vivaldi“, Strasbourg/Baden-Baden 1961, S. 62ff.) nach, ohne damit „Bachs persönlichen Anteil an der Weiterentwicklung des von den Italienern Übernommenen“ in Frage zu stellen.