Tomaso Albinoni

Sechs Thesen

Zum Formprinzip im Solokonzert Tomaso Albinonis

1. Das Ziel der Untersuchungen zum Formprinzip in den Solokonzerten Albinonis war es, die Elemente des Neuen, der neuen Form – insbesondere des Solokonzertsatzes – in der frühen Phase darzulegen und ihre durch die Zeitgenossen mehr oder weniger beeinflusste Umwandlung und Weiterentwicklung aufzuzeigen

2. Der Ausgangspunkt formaler Gestaltung eines Solokonzertsatzes ist die Eröffnung der Form, das heißt die Anlage des (ersten) Ritornells und die Modulationsphase zur neuen tonikalen Ebene. Höhepunkt der Entwicklung des Solokonzertsatzes in Italien ist das von Antonio Vivaldi geprägte Formschema:

Ritornell I: Tonika (Dur) - Solo I: Modulation zur Dominante - Ritornell II: Dominante - Solo II: Modulation zur Tp - Ritornell III: Tonikaparallele - Solo III: Modulation zur Tonika - Ritornell IV: Tonika

Ritornell I: Tonika (Moll) - Solo I: Modulation zur Tonikaparallele - Ritornell II: Tonikaparallele - Solo II: Modulation zur Dominante - Ritornell III: Dominante - Solo III: Modulation zur Tonika - Ritornell IV: Tonika

3. Die Konzerte des Opus II von Albinoni weisen unterschiedliche Formmodelle auf, die eine deutliche Entwicklung zur Solokonzertform erkennen lassen, ohne dass man jedoch daraus eine Chronologie ableiten könnte, denn abgewandelt sind die Modelle auch in späteren Konzerten zu finden.

4. Die Entwicklung des Albinonischen Konzertsatzes geht aus von einem in die Dominante modulierenden, aus fünf Gliedern bestehenden Tonika-Ritornell von 6 Takten (op. II, 6_I ), führt über ein modulierendes Ritornell von 8 Takten, bestehend aus einem Vordersatz, einem aus dem Vordersatz abgeleiteten Gegensatz und einem dritten, figurativen Abschnitt, der in die Dominante moduliert (op. II, 5_I), und erreicht eine erste Entwicklungsstufe in der Eröffnung des ersten Satzes des vierten Konzertes von op. II. Hier folgen dem Vordersatz zwei einander sehr ähnliche Gegensätze, deren zweiter in die Dominante moduliert, daran schließt sich die erste solistische Episode an, die die bereits erreichte Dominante lediglich bekräftigt. In dem Konzert op. II, 6_I wächst das letzte, figurative Glied (2 Takte) des Ritornells organisch aus dem vorhergehenden Gegensatz und moduliert von der Tonika zur Dominante. Im Ritornell des fünften Konzertes ist vor Beginn des figurativen modulierenden Gliedes eine Zäsur. Den entscheidenden Schritt bei der Einführung der Solovioline in das Konzert (op. II, 4_I) vollzieht Albinoni durch die Zuordnung des figurativen Abschnittes an das Solo. Obgleich das Solo zunächst keine konstruktive Bedeutung im Sinne des Vivaldischen Formschemas besitzt, so legt es doch deutlich seinen Platz zwischen dem Tonika-Ritornell und dem Dominant-Ritornell fest.

5. Die weitere Entwicklung der Albinonischen Konzertform führt über das Formmodell des ersten Satzes des zweiten Konzertes aus op. II. Das Tonika-Ritornell besteht aus vier Zweitaktgruppen (Vs/2, GsI/2, GsII/2, Epilog/2) und schließt mit einer Kadenz (Epilog) eine Tonika-Periode ab. In der Wiederholung öffnet sich dann das Tonikafeld im Sinne des vierten Konzertes. Dieses Modell wird in op. V in zahlreichen Varianten abgewandelt. Zum konstruktiven Einbau des Solos in die Form, wie bei Vivaldi z.B. in op. III, kommt Albinoni erst in op. VII, in den Konzerten für eine Oboe.

6. Die Entwicklung des Solos vollzieht sich vom „unthematischsten“ Teil des Ritornells, dem figurativen letzten Abschnitt (s. 4.), bis zur Themaidentität mit dem Ritornell in den zwanzig Jahren zwischen op. II (1700) und op. IX (1722). Das erste Solo in op. II, 5_I läuft in gleichmäßigen Sechzehnteln ab, das erste Solo im ersten Satz des sechsten Konzertes von op. II weist bereits eine Gliederung in Abschnitte auf mit bedeutungsvollem Bezug auf Motive des Ritornells. Typisch für Albinoni – bei Vivaldi kaum zu finden – sind die „Schlussphasen der Soloepisode“, die stets von den Ripieni mitgespielt werden, während Vivaldi die Ripieni direkt mit dem Ritornellthema einsetzen lässt. Albinoni meidet den Kontrast, wo Vivaldi ihn sucht. Die Entwicklung des Solos führt zur Individualisierung, zum Thema. Das Solo steht am Ende dieses Prozesses thematisch gleichberechtigt dem Tutti gegenüber. In der Mehrzahl der späten Konzerte Albinonis sind Tutti- und Solo-Thema identisch. Dieses für Vivaldi wenig typische Verfahren weist auf das Tutti-Solo-Verhältnis im sonatenhaften Konzert der Klassik voraus.